Zweite Förder­pe­ri­ode (2025–2028) bewil­ligt

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25.11.24

SFB 1472 „Transformationen des Populären“. Rückblick und Ausblick

Der Senats­ausschuss für die Sonder­forschungs­bereiche der Deutschen Forschungs­gemein­schaft gibt dem Siegener SFB 1472 „Trans­forma­tionen des Populären“ grünes Licht für eine zweite Forschungs­periode, die am 1. Januar 2025 beginnen wird. Wir freuen uns sehr darüber, unsere Arbeit in drei Forschungs­bereichen (Pop, Popu­lari­sierung, Populis­men) in Siegen und in Koopera­tion mit unseren Stand­orten in Berlin, Bochum, Dort­mund und Friedrichs­hafen fort­setzen zu können. Die Univer­sität Siegen bietet dafür materiell wie intellek­tuell ein ideales Umfeld, und die enge Nach­bar­schaft mit dem SFB 1187 „Medien der Kooperation“ erlaubt die gemein­same Schär­fung und Weiter­entwick­lung des forschungs­starken Profil­bereichs Medien & Kultur.

Zwanzig Teilprojekte, geleitet von vierund­zwanzig Wissen­schaft­ler:innen aus vier­zehn literatur-, kultur-, medien- und sozial­wissen­schaft­lichen Fach­gebieten, werden mit zweiund­dreißig Mitarbei­ter:innen sowie zahl­reichen Research Fellows aus aller Welt weiter an der Frage arbeiten, was für einen Unter­schied es macht, wenn etwas viel oder wenig Beachtung findet, und was es für die poli­tische oder ästhe­tische Bewer­tung oder den kultu­rellen oder sozia­len Rang einer Person oder Sache ausmacht, wenn sie populär oder nicht populär ist.

In den nächsten vier Jahren (2025–2028) wird der SFB 1472 „Trans­forma­tionen des Popu­lären“ die soziale, kultu­relle und politi­sche Proble­matik der Vertei­lung von Beach­tung in den Fokus nehmen, deren Gewicht sich in der Forschung der ersten Förder­phase (2021–2024) heraus­gestellt hat. In einem Rück­blick und Ausblick sei dies kurz skizziert:

Ausgangs­punkt des Forschungs­pro­gramms ist der Befund, dass wir nicht länger in einer Gesell­schaft leben, die ihre Bewer­tungen kultu­reller Güter am Maß­stab einer Hierarchie orientiert, in der sich high culture und low culture gegen­über­stehen. Es besteht noch in den 1950er und 1960er Jahren kaum ein Zweifel daran, was als hoch­kultu­rell gilt und ent­sprechend zu würdi­gen sei und was der Kultur­indus­trie, dem Kitsch, der Massen- oder Konsum­kultur zuzu­schlagen und nun von minde­rem Wert sei. Pierre Bour­dieu hat diese Asymmetrie auf den Gegen­satz von legitimer Hoch­kultur und illegi­timer Populär­kultur gebracht und die Positio­nierungen auf dieser high/low-Skala als Kampf um Distink­tion beschrieben. Die höhe­ren Schichten unter­scheiden sich nicht nur durch ihr soziales und ökono­misches Kapital von den unteren Schichten, sondern auch durch ihren privile­gierten Zugang zu klassi­scher, anspruchs­voller, wert­voller, humanis­tischer Kunst und Kultur, der öffent­lich wie privat zur Schau gestellt werden kann. Populär­kultur als Massen­kultur der unteren Schichten findet zwar zahlen­mäßig weitaus größere Beach­tung, also viel mehr Rezi­pient:innen, Konsu­ment:innen oder Fans als die Hoch­kultur, doch gilt diese massen­hafte Verbrei­tung gerade als Bestäti­gung ihrer Illegiti­mität: Das Publi­kum eines Hollywood-Films, eines Comics, eines Schlagers, eines Heft­romans mag zwar groß sein, aber es befrie­digt nur niedere Lüste und Launen – ganz anders als die Arte­fakte der Hoch­kultur, die aus diesem Grunde der Distink­tion dienen können. Wer moderne Lyrik liest, Sym­phonien hört oder abstrakte Malerei schätzt hat, anders als die Konsu­menten der Populär­kultur, Anspruch auf Achtung.

Diese Zuweisung von Achtung und Miss­achtung ver­liert ihre Selbst­verständ­lich­keit dann, wenn die quanti­tative Dimen­sion der Popu­larität an Gewicht gewinnt. Populär ist, was viele beachten, und wenn dies gezählt, gemessen und vergli­chen wird, entstehen Rang­ord­nungen, deren Logik nicht länger der high/low-Hierarchie folgt, sondern einer Logik des Rankings: Ganz oben rangieren die Spitzen­reiter und Best­seller, Top Hits und Out­performer – und ganz unten jene Titel, die keine Beachtung gefunden haben. Kulturelle Güter können nun allein deshalb als beacht­lich gelten, weil sie populär sind; und dass sie populär sind, ist den ubiqui­tären Charts und Rankings zu entnehmen. Ein viel gele­senes Buch ist als Best­seller nun nicht ohne weiteres der niederen, anspruchs­losen Kultur­industrie zuzu­rechnen und damit zu delegiti­mieren, sondern recht­fertigt sich durch seine Top-Position auf einer ent­sprechen­den Liste. Was so viele bereits beachtet haben, muss doch wohl einige Aufmerk­samkeit wert sein?

Der SFB hat gezeigt, dass mit dieser Trans­forma­tion kultu­reller Güter durch das Popu­läre die tradierte kultu­relle Hierarchie unserer Gesell­schaft unter Druck gerät. Denn es fällt zunehmend schwer zu legiti­mieren, warum 1.) etwas, was viel Beach­tung gefunden hat, nicht beachtet werden solle und keine Aufmerk­samkeit verdient habe; und warum 2.) vorgeblich komplexe, anspruchs­volle, klassische Arte­fakte der Hoch­kultur als beacht­licher, besser, wert­voller gelten sollen, obwohl sie doch nur von wenigen Beach­tung finden. Was einst selbst­verständ­lich als legitime Kultur galt, kann nun immer häufi­ger mit dem Hinweis auf das Des­interesse des Publi­kums delegiti­miert werden. Warum teure und sub­ventio­nierte Fest­spiele, Klassiker­ausgaben und Museums­bauten, wenn dies doch nur die wenigsten hören, lesen und sehen wollen? Die Trans­forma­tion des Popu­lären von einer negativ konno­tierten Qualität (niedrig, einfach, gemein, anspruchslos, sensationell, vergänglich) zu einem inzwischen auch für Museen, Theater, Rund­funk­anstalten, Buch- und Zeitungs­verlage, Universi­täten, Kirchen, Opern­häuser begehrens­werten Prädikat für die Beach­tung von vielen hat die Wertungs­kommuni­kation unserer Gesell­schaft und die Zuteilung von sozia­lem Rang verändert – Aufmerk­samkeit und Wert­schätzung erfährt nun nicht mehr der Klassiker, sondern der Best­seller, der Hit, der Block­buster. Die Dynamik dieser Trans­forma­tion wird umso stärker, sobald digitale Platt­formen Texte, Lieder, Bilder, Filme nicht nur ver­breiten, sondern die Verbrei­tung zugleich auch messen und ranken und zugleich die Wertungs­kommuni­kation über diese Werke in Form von Likes, Comments, Reposts, Down- und Upvotes an diese Verbrei­tung koppeln: Was von vielen beachtet wird, hat dank der Algo­rith­men und Counter die besten Chancen, noch popu­lärer zu werden, während auch die klügsten und schönsten Beiträge ohne Reso­nanz bleiben, wenn sie nicht in den Rankings auf­tauchen. Die soziale Ver­teilung von Beach­tung hat sich gewandelt.

Zu den Konse­quen­zen dieses Wan­dels zählt auch, dass das Nicht-Populäre – all das, was keine mess­bare Reso­nanz findet – Gefahr läuft, als irrele­vant und wert­los zu gelten, eben weil es in keinem Ranking oder Rating auf­taucht. Das gilt selbst für solche Bücher, Musik, Kunst­werke, die lange Zeit unbestritten der bürger­lichen Hoch­kultur zugerechnet wurden. Verlieren sie nach­weis­lich an Beach­tung durch viele, müssen sie den Nach­weis antreten, warum man sie weiter­hin beachten soll. Für die Recht­ferti­gung als beachtens­wertes Kultur­gut reicht häufig nicht mehr, dass etwas wert­voll, gut und schön sein soll. Es muss auch nach­weis­lich popu­lär sein. Die Populär­kultur muss sich nicht mehr dafür recht­fertigen, dass ihre Produkte massen­haft nach­gefragt werden; sie stellt diese Beach­tung durch viele ins Schau­fenster, klebt ein „Bestseller“-Schild drauf und kann damit rechnen, dass man davor zurück­schreckt, etwas abzu­werten, was von so vielen beachtet wird – denn diese impli­zite Herab­setzung all jener Hörer:innen, Leser:innen, Zuschauer:innen, Besucher:innen, die gemein­sam etwas populär machen, ist nur noch schwer zu legiti­mieren. Auch diese Verän­derung der Gesell­schaft zählt zu den Trans­forma­tionen des Popu­lären.

Die politische Dimension dieser Verän­derung dieser Trans­forma­tionen wird in der zweiten Forschungs­phase stärker in den Vorder­grund treten. Der SFB bleibt bei seiner instruk­tiven Nominal­definition, dass popu­lär ist, was bei vielen Beach­tung findet. Dass es viele sind, die eine Posi­tion vertreten, eine Partei favo­risieren oder eine Meinung ins Spiel bringen, macht für die Anschluss­kommuni­kation einen Unter­schied. Auf die Substanz, die Qualität, den Sach­gehalt der Argu­mente, Programme oder Perso­nen kommt es in dieser Frage der Legiti­mation durch Popu­larität weniger an als darauf, dass erfolg­reich unter­stellt werden kann, sie seien bereits populär. So genügt es etwa in Diskus­sionen um den politi­schen Popu­lismus nicht, dessen program­matische Elemente zu bestimmen. Vielmehr sind auch die Popu­larität der Pro­gramme und Perso­nen zu berück­sich­tigen und – umgekehrt – die Effekte der Popu­larität auf die weitere Entfal­tung bzw. Entwick­lung dieser Programme und Perso­nen. Proble­matisch erscheint die Popu­larität für die publi­zis­tische, akade­mische oder politi­sche Beob­achtung, weil es diskur­siv schwer­fällt, die Nicht-Beachtung von Positio­nen zu fordern, die empi­risch bereits von vielen beachtet werden. Die Recht­ferti­gung, popu­läre Positio­nen nicht zu beachten, scheint heut­zutage schwerer zu fallen als in den Zeiten, in denen uner­wünschte Popu­larität als ‚geistlos‘, ‚ein­dimen­sional‘, ‚schema­tisch‘, ‚pöbel­haft‘, ‚niveau­los‘ oder ‚vulgär‘ diskredi­tiert werden konnte. Die Versuche, diejeni­gen ‚Vielen‘, die popu­listi­schen oder polari­sieren­den Akteuren und Agenden anhängen, als ‚dumm‘, ‚unver­nünftig‘ oder ‚spalte­risch‘‘ zu stigma­tisieren, zeigen die Heraus­forde­rung der proble­matischen Popu­larität an.

Welche Rolle spielt die Vertei­lung von Beach­tung, die Legiti­mation durch Popu­larität, die Morali­sierung von Nicht-Beach­tung für unsere Gesell­schaft? Welche Pro­bleme zeitigt diese Diskre­panz zwischen Vertei­lung und Bewer­tung? Diesen Fragen geht der SFB 1472 „Trans­forma­tionen des Popu­lären“ nach, um die Konflikt­dimen­sion der Popu­larität in den Fokus zu nehmen.

Niels Werber