Präsenz, Virtualität, breite Gegenwart
Hans Ulrich Gumbrecht
6. Juli 2022
10:00 – 16:00 Uhr
US-C 104
Hans Ulrich Gumbrecht ist, wie man weiß, ein bedeutender Romanist, Literaturwissenschaftler, Publizist und Buchautor, vor allem aber ein begeisternder Kommunikator, der es wie kaum ein anderer versteht, die Verfertigung von Gedanken im Gespräch zu inspirieren. Wir freuen uns sehr, dass wir ihn für eine Masterclass gewinnen konnten, in der er gemeinsam mit Niels Werber, Niels Penke und Matthias Schaffrick und den Doktorand:innen und Postdoktorand:innen unseres SFB Themen und Motive seiner einflussreichen Studie Unsere breite Gegenwart diskutieren wird. 2010 erstmals publiziert, hat diese Studie nichts von ihrer Aktualität verloren. Im Gegenteil: In den jüngsten Transformationen des Populären und den sich zuspitzenden katastrophischen und geradezu apokalyptischen Perspektiven ist ihr diagnostischer Gehalt erst ganz akut geworden.
In seiner Studie beschreibt Gumbrecht einen kulturellen Zustand, dessen Zukunftsperspektiven sich verdunkelt haben und der von mediatisierter Vergangenheit überschwemmt wird. Wenn in dieser Situation noch kulturelle Chancen für gemeinsam geteilte ästhetische Erfahrungen bestehen, dann muss man sich auf die Suche nach starken Präsenzeffekten machen. Gumbrecht rehabilitiert mit dem Präsenzbegriff ein Konzept, dass von nahezu allen modernen philosophischen Positionen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, verworfen bzw. als Mythos dekonstruiert worden ist. Gumbrecht hält das für einen großen Fehler und findet besonders überzeugende Kandidaten für Präsenzerfahrungen in dem, was traditionell als niedere Massenkultur verachtet wurde, aber tatsächlich heute die unzweifelhaft populärste kulturelle Gattung überhaupt ist: im professionellen Schausport. Dabei setzt Gumbrecht nicht einfach auf das präsentische Affektspektakel gegen die distanzierende Reflexion; konträre Modi werden nicht gegeneinander ausgespielt, er versieht die Modi der Distanzierung, wie Thomas Macho in einer Rezension notiert hat, lieber mit einer Warnung: Körper und Planeten, sie unterscheiden sich von virtuellen Räumen.
Hans Ulrich Gumbrecht hatte von 1989 bis 2018 einen Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University inne. Er ist ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Für uns besonders bedeutsam ist natürlich, dass er ein entscheidender Diskursbegründer der Siegener Medienkulturforschung ist und mit dem ersten deutschen geisteswissenschaftlichen Graduiertenkolleg „Kommunikationsformen als Lebensformen“ einen Anfang der institutionellen Tradition gesetzt hat, in der auch der SFB 1472 „Transformationen des Populären“ steht.