Lust an der Verach­tung. Anmer­kun­gen zu Johan­nes Fran­zens „Wut und Wertung“

Johannes Franzen: Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten (S. Fischer 2024)
Blog
13.01.25
  • Erhard Schütz

Sein viel beachtetes Buch Wut und Wertung (Frankfurt am Main: S. Fischer 2024) hat Johannes Franzen vor allem während seiner Zeit an unserem Sonder­forschungs­bereich 1472 „Trans­forma­tionen des Popu­lären“ geschrieben. Von 2022 bis 2023 war er unser Wissen­schaft­licher Koordi­nator und Redak­teur dieser Web­site. Viele seiner Thesen nehmen Bezug auf unser Forschungs­programm oder verstehen sich als produktive Ausein­ander­setzung damit.
Wir haben einen promi­nenten Gast­rezen­senten gewonnen, Johannes’ Buch für unsere Web­site zu besprechen: Erhard Schütz, emeri­tierter Ordina­rius für Neuere deutsche Literatur­wissen­schaft von der Humboldt-Universität zu Berlin.


Mehr noch als in der Politik scheinen ästhe­tische Erwartungs­enttäu­schungen und Wert­setzungs­konkur­renzen existen­tielle Verunsiche­rungen auszu­lösen. Relativ harmlos dabei die gene­ratio­nellen Ablösungen: Was einer sich verab­schie­denden Gene­ration Winnetou, Tarzan und Zorro, Heidi, Nest­häkchen oder Hanni und Nanni waren, mit der inzwischen befremd­lichen Gender­trennung, ist heute längst der Kosmos von Cosplay und Fan­fiction. Anders hingegen die morali­nesken Erregungs­tsuna­mis quer durch die Kultur­milieus. Nennen wir nur – in selbst erregungs­stimulie­render enume­rativer Gleich­stellung – die geläu­figsten: Woody Allen und der Miss­brauch, J. K. Rowling und Bio­binarität, Günter Grass und die SS, Michael Jackson und Pädo­philie, Wolf­gang Koeppen und das N-Wort, Eugen Gomringer und die Damen­verehrung, Luise Rinser und der Führer, Fontane und die Juden, Böhmer­mann und die Ziegen­liebe oder Nan Goldin und der Anti­semi­tismus. Oder man denke an das Ende von Game of Thrones, das massen­weise Fans in poeto­logische und Identitäts­krisen zugleich stürzte. Gemessen daran wiederum ist die vom Kanon verordnete schulische Lange­weile mit Effi Briest kaum mehr als eine der vielen Geduld­proben auf dem Weg des Erwachsen­werdens.

Alle diese Phänomene und vielerlei mehr hat der Siegener Literatur­wissen­schaftler Johannes Franzen in seinem ebenso gescheiten wie bestens lesbar geschrie­benen – Achtung! Also Verdacht auf wissen­schaft­lichen Midcult! – Buch Wut und Wertung gesichtet und reflek­tiert. Dabei kommt er nicht zu der einen These, etwa eines Umkehr­schubs zu Norbert Elias’ Theorem von der zunehmenden zivili­satori­schen Verfei­nerung, sondern – entsprechend dem Bündel an Aspekten – zu einem Bündel an Charak­teristika. Allein deshalb schon, weil er sich nicht auf die Ober­fläche der allfälligen Feuilleton­debatten verlässt, sondern in die Tiefen der sozialen Medien eintaucht und folglich die Untiefen des geistigen Unrats nicht außer Acht lässt. Ausgehend vom entsprechenden „Schub an Teilhabe“ revidiert er skeptisch die „Helden­geschichte der Kunst­freiheit“, analysiert „vergiftete Para­texte“ und „ästhe­tische Schaden­freude“ wie Lust an der Verachtung. Auf der Spur ästhe­tischer Meinungs­verschieden­heiten und dem „Verletzungs­potential“ darin, das die Kultur­geschichte zu einem Schlacht­feld von Fehden, Rivali­täten und Skan­dalen gemacht hat und weiterhin machen wird. Wer ‚reine Kunst‘ macht, ohne Rück­sicht auf Peer­group, Inter­mediäre und Publikum, wird in Ruhe gelassen, weil faktisch unsichtbar. Alle anderen, ob mit Aktivisten­furor oder Wohl­fühl­faktor, setzen sich poten­ziell der Gefahr der Verachtung, der Wut, des Hasses der je Anderes Erwarten­den aus, sind tenden­ziell bedroht von Versuchen der Prestigede­montage bis Reputa­tions­annihi­lation (zwei wiederum selbst aversion­stimulie­rende Neu­begriffe!). Die steife Oberlippe, die die aufge­blasenen Schmink­lippen verachtet wie der Herz­schmerz die rationale Kälte. Letztlich geht es je um die empfun­dene Diskrepanz zwischen Objektiva­tionen mit Kunst­anspruch zu einer­seits der sozialen Persona der sie Produzie­renden, anderer­seits zu den Moral-, Politik- und Lebenswelt-Vorstel­lungen der Rezi­pienten. Erstaun­lich selten dagegen um poeto­logische Diver­genzen. Der offene oder implizite Impe­rativ des Rilke­schen „Du mußt dein Leben ändern“, unter dem die Produkte auftreten oder der an sie heran­getragen wird, kollidiert mit den unter­schied­lichsten Anspruchs­haltungen, die immer schon da waren, aber nun sich weit­gehend von den histo­risch ein­geübten Hier­archisie­rungen eman­zipiert haben. Folgen: Unter- oder Über­forderung, Lange­weile oder Erregung, Verach­tung oder Bewun­derung, Begeis­terung oder Entsetzen – und das alles neben- und durch­einander. Ein beson­derer Schub resultiert dabei aus dem Verdacht, „dass die Entlastungs­funktion des Ästhe­tischen miss­braucht wird, um sich an Dingen zu ergötzen, an denen man sich nicht ergötzen sollte“. (Wobei der Impe­rativ des ‚man‘ allen­falls noch konjunk­tivisch daher­kommt.) Sein Ziel, über – und durch – die Revue der frei­gesetzten nega­tiven Emotionen nicht eine optimis­tische Sicht auf die Kultur zu verlieren, erreicht Franzen bei seinen durchs Netz und die Feuille­tons mäandrie­renden Streif­zügen durch Abwägen mehr denn Abfer­tigen durchaus. Indes bleibt am Ende die Frage, warum es unbedingt Wut sein muss, warum – analog zum Para­digma der ästhe­tischen Anstrengung gegen Immediat­evidenz und Ad-hoc-Verlustie­rungen – es unbedingt roh ausgelassene Emotionen sein müssen, warum nicht der Ehrgeiz zumindest virtuos gehand­habter Wutrede statt einfach bloß idio­tisch zu sein? Für Franzens Buch ist die grobe Wut zumin­dest im Titel uner­lässlich – wer andern­falls würde ihm sonst in den Medien Aufmerk­samkeit schenken wollen?


Johannes Franzen: Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten. Frankfurt am Main: S. Fischer 2024, 432 S., 26 Euro