Lust an der Verachtung. Anmerkungen zu Johannes Franzens „Wut und Wertung“
Sein viel beachtetes Buch Wut und Wertung (Frankfurt am Main: S. Fischer 2024) hat Johannes Franzen vor allem während seiner Zeit an unserem Sonderforschungsbereich 1472 „Transformationen des Populären“ geschrieben. Von 2022 bis 2023 war er unser Wissenschaftlicher Koordinator und Redakteur dieser Website. Viele seiner Thesen nehmen Bezug auf unser Forschungsprogramm oder verstehen sich als produktive Auseinandersetzung damit.
Wir haben einen prominenten Gastrezensenten gewonnen, Johannes’ Buch für unsere Website zu besprechen: Erhard Schütz, emeritierter Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft von der Humboldt-Universität zu Berlin.
Mehr noch als in der Politik scheinen ästhetische Erwartungsenttäuschungen und Wertsetzungskonkurrenzen existentielle Verunsicherungen auszulösen. Relativ harmlos dabei die generationellen Ablösungen: Was einer sich verabschiedenden Generation Winnetou, Tarzan und Zorro, Heidi, Nesthäkchen oder Hanni und Nanni waren, mit der inzwischen befremdlichen Gendertrennung, ist heute längst der Kosmos von Cosplay und Fanfiction. Anders hingegen die moralinesken Erregungstsunamis quer durch die Kulturmilieus. Nennen wir nur – in selbst erregungsstimulierender enumerativer Gleichstellung – die geläufigsten: Woody Allen und der Missbrauch, J. K. Rowling und Biobinarität, Günter Grass und die SS, Michael Jackson und Pädophilie, Wolfgang Koeppen und das N-Wort, Eugen Gomringer und die Damenverehrung, Luise Rinser und der Führer, Fontane und die Juden, Böhmermann und die Ziegenliebe oder Nan Goldin und der Antisemitismus. Oder man denke an das Ende von Game of Thrones, das massenweise Fans in poetologische und Identitätskrisen zugleich stürzte. Gemessen daran wiederum ist die vom Kanon verordnete schulische Langeweile mit Effi Briest kaum mehr als eine der vielen Geduldproben auf dem Weg des Erwachsenwerdens.
Alle diese Phänomene und vielerlei mehr hat der Siegener Literaturwissenschaftler Johannes Franzen in seinem ebenso gescheiten wie bestens lesbar geschriebenen – Achtung! Also Verdacht auf wissenschaftlichen Midcult! – Buch Wut und Wertung gesichtet und reflektiert. Dabei kommt er nicht zu der einen These, etwa eines Umkehrschubs zu Norbert Elias’ Theorem von der zunehmenden zivilisatorischen Verfeinerung, sondern – entsprechend dem Bündel an Aspekten – zu einem Bündel an Charakteristika. Allein deshalb schon, weil er sich nicht auf die Oberfläche der allfälligen Feuilletondebatten verlässt, sondern in die Tiefen der sozialen Medien eintaucht und folglich die Untiefen des geistigen Unrats nicht außer Acht lässt. Ausgehend vom entsprechenden „Schub an Teilhabe“ revidiert er skeptisch die „Heldengeschichte der Kunstfreiheit“, analysiert „vergiftete Paratexte“ und „ästhetische Schadenfreude“ wie Lust an der Verachtung. Auf der Spur ästhetischer Meinungsverschiedenheiten und dem „Verletzungspotential“ darin, das die Kulturgeschichte zu einem Schlachtfeld von Fehden, Rivalitäten und Skandalen gemacht hat und weiterhin machen wird. Wer ‚reine Kunst‘ macht, ohne Rücksicht auf Peergroup, Intermediäre und Publikum, wird in Ruhe gelassen, weil faktisch unsichtbar. Alle anderen, ob mit Aktivistenfuror oder Wohlfühlfaktor, setzen sich potenziell der Gefahr der Verachtung, der Wut, des Hasses der je Anderes Erwartenden aus, sind tendenziell bedroht von Versuchen der Prestigedemontage bis Reputationsannihilation (zwei wiederum selbst aversionstimulierende Neubegriffe!). Die steife Oberlippe, die die aufgeblasenen Schminklippen verachtet wie der Herzschmerz die rationale Kälte. Letztlich geht es je um die empfundene Diskrepanz zwischen Objektivationen mit Kunstanspruch zu einerseits der sozialen Persona der sie Produzierenden, andererseits zu den Moral-, Politik- und Lebenswelt-Vorstellungen der Rezipienten. Erstaunlich selten dagegen um poetologische Divergenzen. Der offene oder implizite Imperativ des Rilkeschen „Du mußt dein Leben ändern“, unter dem die Produkte auftreten oder der an sie herangetragen wird, kollidiert mit den unterschiedlichsten Anspruchshaltungen, die immer schon da waren, aber nun sich weitgehend von den historisch eingeübten Hierarchisierungen emanzipiert haben. Folgen: Unter- oder Überforderung, Langeweile oder Erregung, Verachtung oder Bewunderung, Begeisterung oder Entsetzen – und das alles neben- und durcheinander. Ein besonderer Schub resultiert dabei aus dem Verdacht, „dass die Entlastungsfunktion des Ästhetischen missbraucht wird, um sich an Dingen zu ergötzen, an denen man sich nicht ergötzen sollte“. (Wobei der Imperativ des ‚man‘ allenfalls noch konjunktivisch daherkommt.) Sein Ziel, über – und durch – die Revue der freigesetzten negativen Emotionen nicht eine optimistische Sicht auf die Kultur zu verlieren, erreicht Franzen bei seinen durchs Netz und die Feuilletons mäandrierenden Streifzügen durch Abwägen mehr denn Abfertigen durchaus. Indes bleibt am Ende die Frage, warum es unbedingt Wut sein muss, warum – analog zum Paradigma der ästhetischen Anstrengung gegen Immediatevidenz und Ad-hoc-Verlustierungen – es unbedingt roh ausgelassene Emotionen sein müssen, warum nicht der Ehrgeiz zumindest virtuos gehandhabter Wutrede statt einfach bloß idiotisch zu sein? Für Franzens Buch ist die grobe Wut zumindest im Titel unerlässlich – wer andernfalls würde ihm sonst in den Medien Aufmerksamkeit schenken wollen?
Johannes Franzen: Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten. Frankfurt am Main: S. Fischer 2024, 432 S., 26 Euro