Schubumkehr. Eine Glosse
In der neuen Ausgabe des Merkur hat der Mainzer Buchwissenschaftler Gerhard Lauer „buddy reading“ und BookTok als die neue literarische Öffentlichkeit bezeichnet („Die neue literarische Öffentlichkeit. Zum Stand eines Strukturwandels“, in: Merkur 910 (März 2025), S. 26–39). Widerspruch kam prompt von den Gatekeepern der ‚alten‘ Öffentlichkeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Jan Wiele: „Der Fan der Fans. Gerhard Lauer liest sich um Kopf und Kragen“, in: FAZ, 5. März 2025).
Mit einer Glosse interveniert bei uns Hans Altenhein, der Doyen der deutschen Buchwissenschaft, in die Debatte.
Schubumkehr. Eine Glosse
Konkrete Lyrik, Rezeptionsästhetik, Systemtheorie, Erzählperspektive: Vergiss das alles, Literaturtheorie ist ein Glasperlenspiel. Die herkömmliche und daraus abgeleitete Literaturkritik manipuliert die Leser, nur die Leser selbst können ihre Lektüre authentisch bewerten. Bücher sind soziale Medien.
Nichts an diesen Behauptungen ist ganz falsch, nichts davon ist neu. Neu ist der Versuch, aus einem Problem die Lösung zu machen: Die Schubumkehr im Literaturverkehr als Prämisse der Diskussion. BookTok und Wattpad sind die Landebahnen. Der Kloster-Roman ist zurückgekehrt, um zu bleiben. Aber der Wandel ist nicht naturgegeben. Ein Blick in die Wirtschafts- und Mediengeschichte zeigt das deutlich: Mit dem Zusammenschluss von Bertelsmann und AOL (America Online) beginnt 1995 die Medialisierung der Buchindustrie in Deutschland. Zusammen mit dem raschen Fortschreiten der Informationstechnologie entstehen neue Geschäftsmodelle: Printing on Demand, Podcast und Streaming, Digitalisierung der Bestände, Online-Handel. Die Konjunktur weckt schlafende Hunde. Und je schneller das materielle Buch an Geltungsnutzen verliert, desto leichter wird es den netzgewohnten Kunden gemacht, die Literaturproduktion selbst in die Hand zu nehmen – natürlich nicht entgeltlos, wie jeder Internetnutzer weiß. Aber die Privatrendite verbindet sich hier in Echtzeit mit der Kapitalrendite.
Das lässt auch die akademische Welt nicht ruhen. Die Buchwissenschaft, einst aus einer historischen Hilfswissenschaft entstanden, übt sich in change management. Um ihren Studierenden entgegenzukommen, setzt sie sich in Leipzig und Mainz an die Spitze der Entwicklung: „Technology and Innovation for Smart Publishing“ heißt das neue Projekt. Bleiben die alten Bücher nun den Kuratoren überlassen?
Über den Autor
Prof. Dr. Hans Altenhein, geboren 1927 in Siegen. Ausbildung zum Verlagsbuchhändler bei R. Oldenbourg; Verlagsleiter der Fischer Bücherei bei S. Fischer und bei Luchterhand. Seit 1987 Lehraufträge für Buchwissenschaft, Honorarprofessor an der TU Darmstadt. Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Buchpublikationen zuletzt: Bücher zwischen den Kriegen. Verlagsgründungen im frühen 20. Jahrhundert (2021); Das Taschenbuchprojekt. Gesammelte Schriften (1964-2017), herausgegeben von Jörg Döring und Ute Schneider (2024).