Präten­dierte Popu­la­ri­tät als Popu­la­ri­täts-Gene­ra­tor (2022)

Eine Antwort auf diesen Text von Maren Lickhardt kann man hier lesen.

Popularität ist unwahrscheinlich und vielmehr die Ausnahme als die Regel. Denn die Bedingung der Möglichkeit von Popularität, nämlich von vielen beachtet zu werden, ist selbst wiederum nicht voraussetzungslos. Beachtung generiert sich – wie gemeinhin angenommen – aufgrund eines bestimmten Könnens, einer genuinen Leistung, die über das Maß sich Vergleichender hinausgehen. Exzellenz mag Beachtung erzeugen oder die Wahrnehmung eines Amtes, das seine Träger:in über die Menge der Vielen hinaus exponiert. Dabei ist es zunächst einmal gleichgültig, ob man an Politik, Sport, Musik oder die Kunst im Allgemeinen denkt.

In allen Fällen gilt: Wie unwahrscheinlich ist es, populär zu sein wie Michael Schuhmacher, Leonardo da Vinci oder die Beatles? Auch historisch ließe sich das leicht nach hinten verlängern: Wie viele deutschsprachige Schriftsteller:innen des 18. Jahrhunderts gibt es, die nicht berühmt wie Goethe sind? Die Antwort lautet: beinahe alle - Lessing und Schiller vielleicht ausgenommen. Wenn es also stimmen sollte, dass Popularität unwahrscheinlich ist und Popularität sich in erster Linie in irgendeiner Form von Leistung gründet, dann wäre es eben diese Leistung, die dazu führt, von Vielen beachtet zu werden.

Nun wäre es aber naiv zu glauben, dass sich eine solche Leistung vorab und zielgerichtet bestimmen ließe. Was im Bereich des Sports und der Politik vielleicht noch einfacher zu kalkulieren ist (als Bundeskanzlerin ist man in jedem Falle populär, das bringt das Amt mit sich), erscheint im Bereich der Kunst und Unterhaltung doch deutlich diffuser. Das Manuskript von Harry Potter etwa wurde von mehreren Verlagen abgelehnt. Und wer hätte sich getraut den globalen Siegeszug eines Computerspiels wie Pokemon-Go vorherzusagen? Gerade diese Fälle sind allerdings besonders spannend, was die Unberechenbarkeit des ‚Populärwerdens‘ angeht. Ich werde versuchen, das im Folgenden anhand von Literatur – genauer: dem Phänomen Bestseller – ein wenig konkreter zu fassen.

Matthias Schaffrick hat in seinem Beitrag ‚Paratext Bestsellerliste. Zur relationalen Dynamik von Popularität und Autorisierung‘ eine Heuristik entwickelt, die für die hier verfolgte Fragestellung äußerst fruchtbar ist (Schaffrick 2018: 86f.). Schaffrick unterscheidet drei Typen von Bestsellern, die sich aus der Kombination von Popularität und Autorität ergeben: 1. das Siegfried-Lenz-Modell, gekennzeichnet als Popularität durch literarische Autorität; 2. das Wolfgang-Herrndorf-Modell, beschreibbar als Autorität durch Popularität; sowie ein 3. Modell, dem Helmut Schmidt Pate steht: Popularität durch (außerliterarische) Autorität.

Screenshot Spiegel-Beststellerliste

Allen drei Modellen ist gemein, dass die bereits erreichte Popularität als Grundlage weiterer Beachtungserfolge dient. Es ist also deutlich wahrscheinlicher erneut einen Bestseller zu schreiben, als erstmals einen Bestseller zu schreiben. Im letzteren Falle nämlich gilt das, was zuvor als Unwahrscheinlichkeit des Populären gefasst wurde. Der allergrößte Teil der literarischen Produktion, ob zu Recht oder zu Unrecht sei völlig dahingestellt, verbleibt im Bereich des Nicht-Populären, sie wird schlicht nicht beachtet. Es verwundert ja doch, dass sich innerhalb der Werkzusammenhänge der drei Autoren, die für die Modelle Pate stehen, Bestseller an Bestseller reiht.

Wer las eigentlich all die Siegfried-Lenz-Romane, die es turnusmäßig auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft haben? Sicherlich nicht alle, die sie gekauft haben, und damit das Werk und seinen Autor auf eben dieser Liste platzierten. Warum sollte jemand, der Tschick gut fand, auch Arbeit und Struktur lesen? Und sind alle politischen Großwetterlagenberichte des Altkanzlers Schmidt wirklich lesenswert? Wahrscheinlich nicht. Dennoch enthüllt sich hier eine Logik, die besagt, dass Popularität erneute Popularität oder gar einen Zuwachs an Popularität generieren kann. Selbst wer zu jung ist, um Schmidt als Kanzler erlebt zu haben (Autorität als Bundeskanzler) kommt um seine Popularität als Autor (sofern man ein lesendes Subjekt ist) kaum herum.

Es geht hier nicht um Literaturkritik, die qualitativ werten möchte, sondern lediglich um die Feststellung von Beachtungserfolgen. Alle drei Autoren haben, und darin besteht der autoritative Charakter, Leistungen vollbracht, im Bereich der Literatur oder eben außerhalb. Man kann diese Logik aber noch weiterspinnen: Was etwa wäre, wenn die Leistung, die einer einmal gewonnenen Popularität zugrunde liegt, gar nicht eindeutig benannt werden kann, es sich aber trotzdem um ein nachweislich populäres Phänomen handelt? Oder um es verkürzt zu formulieren: Was kann eigentlich Kim Kardashian?

David Pfeifer schreibt dazu in einer Rezension zum Serienstart von The Kardashians auf Disney Plus in der Süddeutschen Zeitung:

Wie hoch die Schwestern im Berühmtheits-Klassensystem mittlerweile stehen, erfährt man ebenfalls in der neuen Staffel. Kim Kardashian soll als Gastgeberin in der Comedy-Sendung Saturday Night Live auftreten – das ist in den USA das Hochamt für jeden Komiker, Schauspieler oder Entertainer. Sie wundert sich selbst darüber, denn sie kann weder singen noch tanzen noch spielen. Khloé und Kourtney sagen in die Kamera, dass Kim von ihnen am wenigsten Humor hat.

Kim wird also eingeladen, weil sie berühmt ist – „So funktioniert Ruhm“ – lautet die passende Überschrift dieses Artikels (wobei man das altertümliche ‚Ruhm‘ – im Sinne von berühmt – vielleicht zumindest hier mit Popularität gleichsetzen kann). Kim Kardashian ist zu diesem Zeitpunkt mit 297 Millionen Followern auf Instagram auf Platz acht gerankt, mithin also nachweislich extrem populär. Hier, so hat es den Anschein – ist es allein die Popularität selbst – ohne genuine vorangegangene ‚Leistung‘ im weitesten Sinne, die erneut Popularität generiert, indem sie genau diesen Umstand ausstellt. In der Serie passiert dann inhaltlich auch nichts, außer dass man berühmten Menschen beim Berühmtsein zusehen kann. „Wo Milliarden von Menschen vor Bildschirmen sitzen und anderen Menschen beim Leben zusehen, speist sich Berühmtheit irgendwann von selbst“, schreibt David Pfeiffer in seinem Text.

Theoretisch könnte man diese selbstverstärkende Form der Popularität präziser fassen als ein Phänomen einer Popularisierung zweiter Ordnung, wie sie der Siegener Sonderforschungsbereich ‚Transformationen des Populären‘ versteht. Es handelt sich demnach um solche Popularisierungsverfahren, die Populäres herstellen, indem sie die Popularität konstatieren und zugleich (etwa in Rankings, Bestenlisten, Charts, etc.) ausstellen.

Ich möchte dieser Spirale noch eine letzte Windung hinzufügen. Was wäre, wenn nicht einmal tatsächliche Popularität von Nöten wäre, um erneute oder vermehrte Beachtungserfolge zu generieren, sondern prätendierte Popularität dafür genügen wurde? Hierzu ein Beispiel: Benjamin von Stuckrad-Barres Erscheinen seines ersten Romans – Soloalbum aus dem Jahr 1998 – war, glaubt man der Aussage des Autors, von einem veritablen Bubenstück begleitet. In seinem gattungstypologisch schwer greifbaren Buch Panikherz heißt es dazu:

Natürlich gab es für einen Debütroman keine BUNDESWEITE BAUZAUNPLAKATIERUNG, also musste ich mir etwas einfallen lassen. Ich rief den deutschen PRODUKTMANAGER von Oasis an, wir hatten uns bei irgendeinem Musikbranchengelage kennengelernt, und der veröffentlichte nun ein Album mit B-Seiten von Oasis. Da habe er Glück, informierte ich ihn, die B-Seiten von Oasis würden in meinem Buch nämlich EXPLIZIT gelobt, er dürfe MEINETWEGEN das Zitat in Anzeigen verwenden. Und so wurde – eigentlich mein GESELLENESTÜCK als Produktmanager der Herzen – in einer Oasis-Anzeige mein Buch beworben. Die Platte hieß „Masterplan“. Ich hatte auch einen: ins Licht! (Stuckrad-Barre 2016: 119)

Der hier so eindeutig ausgesprochene Plan – „ins Licht“ – zielt schlicht auf Popularität.* Es geht, das macht die Metaphorik deutlich, um die große Bühne. Ziel ist es, aus dem Schatten heraus und ins Rampenlicht zu treten. Dieses Bekanntwerden scheint eine Voraussetzung für alles Kommende zu sein, denn es geht ja gerade nicht darum, sich etwa Leserinnen und Leser für das eigene Buch zu wünschen, von der etablierten Literaturkritik gefeiert zu werden, einen Sieg beim Bachmann-Preis zu gewinnen oder um sonstige Würden, die im literarischen Feld zu erringen wären. Dieses Streben nach Beachtung jenseits qualitativer Ansprüche wird auch in Panikherz* explizit: „Mein Buch erschien, es gab erste Verrisse, [Harald, M.M.] Schmidt sagte: Großartig, vom Spiegel verrissen, von Aspekte gelobt, besser geht’s doch gar nicht.“

Mit der Anlehnung an die bereits äußerst populäre und erfolgreiche Britpop-Band Oasis verschafft sich Stuckrad-Barre das notwendige (Aufmerksamkeits-)Kapital, um selbst erste Beachtungserfolge zu erzielen. Zugleich erscheint es völlig gleichgültig, wie diese Beachtung aussieht, auch der Verriss im Spiegel trägt letztlich zur Beachtung bei. Schlimmstenfalls wäre – und damit wären wir wieder bei der Regel – jegliche Beachtung ausgeblieben und das Debüt wie so viele andere im Bereich des Nicht-Populären verblieben. So unwahrscheinlich das Populäre ist, so wahrscheinlich ist es, die Beachtung Vieler zu verfehlen. Dieser Umstand lässt sich auch durch bloße Werbung nicht mühelos überbrücken. Würde man diese Prätention von Popularität rein unter Marketingaspekten würdigen – wie Benjamin von Stuckrad-Barre das ja selbst tut – unterschätzte man die Reichweite des Phänomens.

Man kann jetzt darüber spekulieren, unter welchen Bedingungen eine solche Form prätendierter Popularität an ihre Grenze stößt. In dem Moment, wo Beachtungserfolge messbar und objektiv nachvollziehbar sind wie im Fall Kim Kardashians (hier kann man schlicht auf die Anzahl der Follower verweisen), kommt man sicherlich in schwierige Fahrwasser. Denn Überprüfbarkeit ist der Tod der Prätention. Dennoch soll nicht ausgeschlossen werden, dass ein solches Vorgehen erfolgreich auch unter den Bedingungen einer automatisierten Beachtungsmessung möglich sein kann und in Popzusammenhängen selbstredend gut gepflegte Praxis ist: In nicht wenigen Fällen ist die Pose eine Form prätendierter Popularität.

Nachweislich populär zu sein, ist vielleicht unter Umständen gar nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr könnte die überzeugende Kommunikation eigener Popularität oder der eigenen künstlerischen Werke ebenfalls zum Popularitätsgenerator werden. Dann würde prätendierte Popularität diejenige Systemstelle füllen, die wahlweise Leistung und/oder bereits erlangte Beachtungserfolge eingenommen haben. Muhammad Alis Popularität beruht natürlich auf seinen sportlichen Leistungen, aber sein Nachruhm ist sicherlich auch untrennbar mit seiner Selbstbezeichnung als ‚The Greatest of all Time‘ verbunden. Zahlreiche Portraits, Biografien und Filme nutzen genau diese vielleicht wichtigste Pose im Sport des 20. Jahrhunderts als Titel.

Wie unkalkulierbar diese Art prätendierter Popularität wiederum sein kann, belegt die unvorsichtige Aussage John Lennons in einem Zeitungsinterview von 1966, wo er behauptet hatte, die Beatles seien ‚More popular than Jesus‘. In Teilen der USA waren Anhänger christlicher Religionen derart aufgebracht, dass nicht alle Konzerte der geplanten Tour stattfinden konnten. Auch hier gilt es eine gewisse zeitliche Verzögerung sowie den jeweiligen Publikationsort zu beachten. Während Lennons Aussage, die ursprünglich als Teil eines Interviews im London Evening Standard abgedruckt wurde, zunächst völlig unbeachtet blieb, entzündete sich der Skandal, nachdem das amerikanische Tenniemagazin Datebook die entsprechende Aussage zitiert hatte.

Entscheidender als für eine Einschätzung zeitgenössischer Popularitätsphänomene scheint mir die Form prätendierter Popularität allerdings in historischer Hinsicht, also für diejenigen Zeitabschnitte, die nachweislich mit der Kategorie eines ‚Populären‘ operieren (seit der Mitte des 18. Jahrhunderts), aber noch keine direkte Form von stringenten Beachtungsmessungen im Sinne einer Erfassung von Popularität in Listen, Ranking oder Charts kennen.

Gerade in historischer Perspektive ist es oft nicht einfach, behauptete Popularität zu überprüfen. Am häufigsten fehlt es schlicht an aussagekräftigen Quellen, um Verbreitungszahlen literarischer Werke bestimmen zu können. Sicherlich kann man Indikatoren identifizieren, die eine gewisse (und mitunter auch durchaus zuverlässige) Aussage über die Reichweite erlauben. Darunter fallen etwa die Anzahl an Auflagen eines Werkes und mögliche Raubdrucke, die Debattendichte oder bestenfalls Archivmaterial von Verlagen. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob es nicht häufig die nur behauptete Reichweite, die angenommene und von vielen geglaubte Popularität eines Werkes ist, die selbst zum Generator von Popularität werden kann. Manche Dinge muss man nur konsequent und oft genug behaupten, dann werden sie zwar nicht wahrer, im Falle von Popularität aber zumindest wahrscheinlicher.

** Benjamin von Stuckrad-Barre nimmt hier höchstwahrscheinlich Bezug auf die Werbekampagne zu Oasis‘ Be Here Now, wo u.a. in ganz Großbritanien flächig plakatiert wurde. Siehe hierzu auch Schumacher 2011. Ich danke Anna Seidel ganz herzlich für diesen Hinweis!

Literatur

Schaffrick, Matthias: Paratext Bestsellerliste. Zur relationalen Dynamik von Popularität und Autorisierung. In: Martin Gerstenbräun-Krug und Nadja Reinhard (Hg.): Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen von Werk und Autorschaft. Wien: Böhlau 2018, S. 71-90.

Schumacher, Eckhard: „Be Here Now“ – Zitathaftes Aufpropfen im Pop-Diskurs. In: Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Propfen, Transplantieren. Berlin 2011, S. 213-234.

Stuckrad-Barre, Benjamin von: Panikherz. Köln 2016.