CFP: Das nicht mehr Popu­läre. Phäno­mene und Prozesse der Depo­pu­la­ri­sie­rung (2022)

Die Forschung zum Populären konzentriert sich in aller Regel auf Phänomene, die bereits viel Beachtung finden (Populärkultur). Man interessiert sich für die Bedingungen der Popularisierung und die Effekte der vergleichenden Beachtungsmessung (Charts, Hitlisten, Rankings). Obwohl es zum Charakter von Charts und Bestsellerlisten gehört, dass Artefakte oder Personen, die äußerst populär sind und die Rankings anführen, dies nicht für alle Zeiten tun, sondern von anderen Phänomenen (etwa Stars, Prominente, Songs, Bücher, Filme, Urlaubsorte...) abgelöst werden, wird kaum danach gefragt, was aus ihnen wird, wenn sie ihre Spitzenstellung verlieren.

Wie steht es mit dem Phänomen vergangener Popularität? Was gehört zum Prozess der Depopularisierung? Wie sind Artefakte oder Personen, die niemals sonderlich populär gewesen sind, von solchen Artefakten oder Personen zu unterscheiden, die einst die Beachtung von vielen gefunden haben, nun aber kaum mehr beachtet werden, die Erinnerung daran, dass sie einst Listen, Charts, Rankings angeführt haben, aber noch mitführen?

Einige Zeitungen und Zeitschriften (Gala, Stern, Rheinische Post, Schweizer Illustrierte…) haben ein eigenes Format eingeführt, um quasi anlasslos über ehemals prominente Personen des öffentlichen Lebens zu berichten: „Was macht eigentlich...?“ Gefallene Stars, vergessene Politiker:innen, einstige Berühmtheiten (die No Angels, Shannen Doherty, Ulla Schmidt...) werden kurz porträtiert, immer in Bezug auf ihre einstige Popularität und ihr aktuelles Dasein im Schatten der medialen Aufmerksamkeit.

Dieses Interesse an vergangener Popularität richtet sich nicht nur auf Personen, sondern auch auf kulturelle Artefakte. Ein serielles Format wie Die ultimative Chartshow (RTL) hat dieses Prinzip zum Programm gemacht ("Die erfolgreichsten One-Hit-Wonder", "Die erfolgreichsten Love Songs der 80er Jahre"). Bereits Walter Benjamin hat sich in seinem kurzen Beitrag Was die Deutschen lasen während ihre Klassiker schrieben (1932) an die vergessenen Autor:innen des 18. und 19. Jahrhunderts erinnert, die tatsächlich populär waren, als noch kaum jemand den künftigen Klassikern Beachtung geschenkt hat.

Das Populäre ist offenbar vergänglich.

Der Bestseller eines neugeborenen Stars am Literaturhimmel muss sich nur synchron messen lassen, an anderen mehr oder minder populären Bücher, die in einer Bestsellerlist geführt werden. Der Weg zu den ersten Plätzen der Charts führt aufwärts. Anders als diese vergleichende Beachtungsmessung, die Popularität in positiver (synchroner) Abweichung von anderen ähnlichen Artefakten (Songs, Bücher, Stars, Filme, Spiele, Politiker:innen, Kunstwerken etc.) ermittelt, wird Depopularisierung nur als eine negative Differenz zur vormaligen Popularität sichtbar. Anders als unbekannte Autor:innen muss sich gefallene Stars fragen lassen, warum sie nicht mehr die große Beachtung finden wie vorher. Was einmal populär war, befindet sich im Prozess eines Verlustes dieser Popularität – und damit seiner Resonanz und Geltung. Depopularisierung erscheint, der Popularisierung entgegengesetzt, als quantitativ beobachtbarer und beschreibbarer Prozess abnehmender öffentlicher Beachtung:

Einschaltquoten und Klickzahlen nehmen ab, Verkaufszahlen gehen zurück, Nachdrucke und Neuauflagen werden nicht länger vorgenommen, der (Re-)Produktionsstrom reißt ab, das Produkt verschwindet vom Markt in die Nischen der Antiquariate, Flohmarkt˗ und Zu˗verschenken˗Kisten, schließlich tritt es auch dort nicht mehr in Erscheinung. Es fällt langsam aus der Realität der Gesellschaft heraus, wenn nicht eigens genau auf dieses Schwinden der Beachtung mit dem Verweis auf die ehemalige Popularität aufmerksam gemacht wird: „Erinnern sie sich noch an ...?“
Zu vermuten wäre, dass vergangene Popularität, wenn sie kommunikativ markiert wird, spezifische Effekte zeitigt, also an den Transformationen des Populären teilhat, die der SFB 1472 ins Zentrum seiner Forschung stellt. Systematisch wäre nach den Phänomenen und Prozessen der Depopularisierung zu fragen.

Für eine Ausgabe der LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, die im März 2024 erscheinen wird, wollen wir dem Phänomen der Depopularisierung näher auf den Grund gehen und folgende Fragen bearbeiten:

  • In welchen Formen tritt Depopularisierung auf? Wie wird ehemalige Popularität kommuniziert?
  • Welche Effekte zeitigt Depopularisierung, und welche Funktionen könnte sie erfüllen: Welches Problem löst die Thematisierung verblichener Beachtung?
  • Was geht andererseits mit dem Verlust von Resonanz und Legitimation einher, welche Legitimationsstrategien zeigen sich im Umgang (der/des Depopularisierten, der Fans, Teilnehmenden) mit kulturellen Produkten, die sich im 'Niedergang' befinden?
  • Was die Eltern noch für populär halten, ist ihren Kindern oft vollkommen unbekannt. Die der Figur Winnetou wäre ein solcher Fall anachronistischer Popularität. Welche Effekte zeitigt diese asynchrone Depopularisierung durch den Bezug auf verschiedene historische Markierungen der Popularität? Und wie beeinflusst dies Erinnerungsformen und Bewertungsregime, die im Zeichen der Ungleichzeitigkeit Relevanz und Geltung behaupten?
  • Welche Praktiken der Erinnerungspflege werden im Zusammenhang mit depopularisierten Artefakten angewandt – institutionell, aktivistisch, öffentliche und akademische Erinnerungsarbeit – Depopularisierung und (Alltags)Präsenz –, zum Beispiel im Zuge der Kommunikation über frühere Bestseller (Heinz G. Konsalik, Johannes Mario Simmel, John Knittel, Utta Danella)?
  • Welchen Status hat die Erinnerung als konservierte Popularität im Kontext von Generationalität (z. B. bestimmter Alterskohorten oder eines gruppenspezifischen kommunikativen Gedächtnisses)?

Beitragsvorschläge erbitten wir bis zum 23.12.2022 (an werber@germanistik.uni-siegen.de und penke@germanistik.uni-siegen.de). Über die Annahme wird zeitnah entschieden. Die fertigen Beiträge im Umfang von 10-15 Seiten sollten zum 01.09.2023 vorliegen.