Prof. Dr. Niels Werber (Neuere deutsche Literaturwissenschaft)

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Lange vor meiner Begegnung mit der systemtheoretischen Soziologie, mit der Codierung von Intimität im Roman, mit der medialen Konstitution von Räumen, der Geopolitik der Literatur und der Selbstbeschreibung der Gesellschaft im Spiegel sozialer Insekten, lange vor der Promotion (1993), der Habilitation im Fach „Deutsche Philologie“ (2001), der Erweiterung meiner venia legendi für das Fach „Medienwissenschaften“, lange vor dem Ruf an die Universität Siegen auf eine Professur für Neure deutsche Literaturwissenschaften (2008) und sehr lange vor der Gründung der Forschungsstelle „Populäre Kulturen“ (2014) steht die Lektüre von Perry Rhodan-Heftromanen, einem der beiden Forschungsgegenstände des Teilprojekts A01: Serienpolitik der Popästhetik: Superhero Comics und Science-Fiction-Heftromane, das ich seit 2021 mit Daniel Stein leite und gemeinsam mit Laura Haas und Anne Deckbar durchführe, um herauszufinden, wie eine populäre Serie sich wandeln muss, um über sechzig Jahre zu laufen, und wie sie dabei die Grenzen der kulturellen high/low-Axiologie verschiebt und neu bestimmt.

Denn auf Perry Rhodan-Heftromane bin ich als Zwölf- oder Dreizehnjähriger in einem Urlaub gestoßen. Das Wetter war schlecht, und einige Dutzend Hefte mit spektakulären Covern boten sich zur Lektüre an. Es ging um Methan atmende Monster, an denen Ingo Niermann und Christian Kracht (die einmal in Siegen aus Methan gelesen und mit uns diskutiert haben) ihre Freude gehabt hätten oder sogar hatten. Verstanden habe ich die Handlung der verstreuten Episoden der vorgefundenen Hefte nicht, da mir alle Voraussetzungen fehlten, doch waren diese Perry Rhodan-Hefte spannend genug, um die Lektüre des Serienbeginns nachzuholen und den Verlauf der „grossen Weltraum-Serie“ über einige Dutzend Silberbände hinweg zu verfolgen, die in Buchform fünf bis sieben Hefte enthielten und den Neueinsteigern in die Serie, die 1978 die Geschichte des „Erbens des Universums“ schon über neunhundert Hefte erzählt hat, ein Nachholprogramm anbot. Abonnent wurde ich aber nicht. Und Perry Rhodan wurde schließlich wohl in der zehnten Klasse von anderen Lektüren verdrängt, die mehr Anerkennung und schulischen Erfolg versprachen: Der hochkulturelle Kanon setzte sich erfolgreich durch. Überdies galt die Serie auch politisch als bedenklich: Der Spiegel (6/1978) warnte mehrfach vor dieser „schlimmsten Ausgeburt imperialistischer, faschistischer Zukunftsphantasie“. Wer wollte sich diesem Vorwurf schon aussetzen? Dass von den „primitiven Machwerken“ der Serie seit ihrem Start (1961) „300 Millionen allein in Deutschland über die Kioske verkauft wurden“, war für den Spiegel ein Alarmsignal. Jedenfalls las ich dann, wie fast alle meine Peers, statt Perry Rhodan mehr oder minder begeistert Rolf Hochhuth und Bernd Engelmann, Günter Wallraff und Heinrich Böll. Dass meine Eltern zwar die Hefte entsorgten, die in einem bildungsbürgerlichen Haus nichts zu suchen hatten, aber immerhin die Hardcover der Silberserie verwahrten (auf dem Dachboden), sollte sich noch auszahlen.

25 Jahre später, ich beschäftigte mich als Literaturwissenschaftler mit der literarischen Konstitution geopolitischer Räume, erinnerte ich mich wieder an meine Perry Rhodan-Lektüren. Ich hatte über Science Fiction-Autoren der 1920er und 1930er Jahre – etwa Hans Dominik – gearbeitet (Niels Werber, "German Death Star in Orbit. Geopolitics and Globality in German Popular Nazi Novels", in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 2. Jg., Nr. 9, 2003: S. 257-271), und es schien mir damals so, als ob sich in der Heftroman-Serie Muster fortschrieben, es also im Genre 1945 keinen „Bruch“ gegeben habe. Während geopolitisches Denken à la Karl Haushofer nach 1945 ihre Relevanz in den Behörden und Universitäten der BRD verloren hatte, schienen ihre naturalistischen und darwinistischen Grundsätze und ihre genuin literarischen Mittel der Evidenzerzeugung im „populären“ Sektor der Literatur fortzuwirken und wieder Millionen zu begeistern. Friedrich Ratzels überaus fragwürdige „Gesetze der wachsenden Räume“ (Friedrich Ratzel, "Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen politischen Geographie", in: Petermanns Mitteilungen, Nr. 42, 1896: S. 97-107) schienen die Erzählung von der Ausbreitung des „Solaren Imperiums“ exakt zu fassen. War die fatale Geopolitik des Deutschen Reiches zurück? Hat der typisch deutsche Raum-Diskurs (Werner Köster: Die Rede über den 'Raum'. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg: Synchron Verlag 2002) nur das Medium gewechselt, um relativ unbeobachtet – denn Literaturwissenschaftler beschäftigten sich ja mit dem Kanon der Hochkultur und kaum mit Schema- oder Trivialliteratur – und unbekümmert um die offiziösen Regeln des Sagbaren und Unsagbaren in „Groschenromanen“ weiter zu existieren? Als Forschungsfrage gefasst, würde dies allerdings so ziemlich die Spiegel-These auf akademischem Niveau aufgreifen, sozusagen das Ideologiekritische ins Diskursanalytische gewendet. Ich verfolgte den Gedanken damals nicht weiter und konzentrierte mich stattdessen auf die literarische Konstitution des geopolitischen Diskurses, also darauf, wie die Literatur das geopolitische Denken formt – und nicht etwa schlicht widerspiegelt und popularisiert (Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München: Hanser 2007).

Erst die Frage nach dem Populären (Torsten Hahn, Niels Werber, "Das Populäre als Form", in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologie, 10. Jg., Nr. 2 (2004): S. 347-354), die um 2000 Thomas Hecken und Urs Stäheli auf äußerst anregende Weise neu gestellt haben und die nun im Zentrum der Forschungen des SFB 1472 "Transformationen des Populären" steht, scheint mir einen Ansatz zu ermöglichen, der die Heftromanserie als Gegenstand erschließt, ohne bereits alles über Perry Rhodan deswegen zu wissen (glauben), weil die Serie populär und also massenfabriziert, folglich schematisch und trivial und daher politisch affirmativ, reaktionär oder eskapistisch sei (vgl. für einen Überblick über die Forschungslage: Niels Werber, "Selbstbeschreibungen des Politischen – in Serie: Perry Rhodan 1961-2018", in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, 3. Jg., Nr. 1 (2018): S. 75–98). Denn wenn eines feststand, dann die Popularität der Serie im Sinne der kühlen Nominaldefinition, die Thomas Hecken vorgeschlagen hat und die sich für das Forschungsprogramm des SFB 1472 "Transformationen des Populären" als zentral erwiesen hat: „Populär ist, was bei vielen Beachtung findet.“ (Thomas Hecken: Populäre Kultur, Bochum: Posth Verlag 2006.)
Popularität und Serialität mussten in einem signifikanten Zusammenhang stehen, denn ohne von vielen Beachtung zu finden, wird eine Serie schon allein aus kommerziellen Gründen eingestellt. Diese Anforderung schließt die Möglichkeit ein, dass eine erfolgreiche Serie sich über die lange Reihe ihrer Episoden wandelt, um populär zu bleiben. Ihre Politik (wie geht es weiter?) tritt in ein enges Wechselverhältnis mit ihrer Ästhetik (wie soll es ausschauen?). Dies konnte bereits die DFG-Forschungsgruppe „Populäre Serialität“ um Frank Kelleter, in der auch Daniel Stein seine Studien zu Comics und graphic narratives vorantreiben konnte, zeigen, auch mit einem ethnographischen Blick auf Perry Rhodan (Mirjam Nast: 'Perry Rhodan' lesen. Zur Serialität der Lektürepraktiken einer Heftromanserie, Bielefeld: Transcript 2017). Für die Amerikanisten Kelleter und Stein ist es weniger eine Frage, dass Superhelden-Comics die visuelle Kultur der USA mitprägen und genuine Erkenntnisse versprechen; die wichtige methodische Frage ist vielmehr die, wie Superhero Studies als Teil der American Studies zu betreiben seien (Daniel Stein, “Can Superhero Comics Studies Develop a Method? And What Does American Studies Have to Do with It?” Projecting American Studies: Essays on Theory, Method, and Practice. Ed. Frank Kelleter and Alexander Starre. Heidelberg: Winter, 2018. 259-271). Als Germanist konnte ich von diesen Überlegungen nur profitieren und, was den Gegenstand anging, die Beweislast umkehrend das eigene Fach fragen: Warum sollte eine Heftroman-Serie, deren Auflage in die Millionen geht und die seit dem 8. September 1961 ohne Unterbrechung jede Woche erscheint und mithin ihre Leser findet, keine Beachtung finden? Wäre es nicht gerade die Aufgabe einer kultur- und medienwissenschaftlich interessierten Germanistik, eine Serie zu untersuchen, die ihre Formen und Verfahren seit sechzig Jahren weiterentwickeln muss, um populär zu bleiben – denn ohne die Beachtung vieler, auch immer wieder neuer Leserinnen und Leser wäre dieses Verlagsprojekt eingestellt worden. Diese Frage rüttelt auch an der Selbstverständlichkeit der asymmetrischen Unterscheidung von Hochkultur und Populärkultur und ihren Wertungsvorgaben (wertvoll vs. trivial, klassisch vs. modisch, anspruchsvoll vs. niveaulos etc.), denn aus der Popularität der Serie lässt sich keineswegs folgern, dass sie schematisch, trivial, reaktionär oder unterkomplex sei.
Dieser Schritt genügt aber noch nicht, auch wenn es sicher ein Gewinn ist, viel gelesene Literatur nicht aus dem Forschungsfeld der Literaturwissenschaften auszuschließen (vgl. Steffen Martus, Carlos Spoerhase, "Gelesene Literatur in der Gegenwart", in: Text + Kritik. Gelesene Literatur. Populäre Lektüre im Medienwandel, XII. Jg., 2018: S. 7-17). Vielmehr wäre auch der Fehler vieler wohlmeinender Ansätze zu vermeiden, die meinten, „populäre Kultur durch avantgardistisch-formalistische oder populistische Deutungen, die man ihren Produkten angedeihen läßt, aufwerten zu müssen“ (Ralph Hinz, "Cultural Studies. Themen, Argumente, Kritik", in: Der Reiz des Trivialen, hrsg. von Thomas Hecken, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 163-200, S. 194). Diese Aufwertung des Populären, die die eigenen Methoden und Wertmaßstäbe überhaupt nicht hinterfragt und die high/low-Asymmetrie letztlich intakt hält, hatte mir schon 1997 nicht eingeleuchtet (Niels Werber, "Die Form des Populären", in: Der Reiz des Trivialen, hrsg. von Thomas Hecken, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 49-86). Es konnte also nicht darum gehen, Perry Rhodan mit den üblichen Kategorien (komplex, ambivalent, selbstreferentiell etc.) in die Sphären der Hochkultur zu rücken, sondern darum, an den Lektüre- und Kommentarpraktiken der Leserinnen und Leser zu beobachten, welche Kriterien und Urteile in Anschlag gebracht werden und wie sich die Serienevolution darauf einstellt.

Wir möchten im Teilprojekt A01 herausarbeiten, wie in Leserbriefen und Fan-Foren, in Wikis und Fanzines die Serie in ihrer Popularität rezipiert, bewertet und reflektiert wird. Welche Rolle spielt die große Beachtung, die sie findet, bei der axiologischen Einordung oder für die Rechtfertigung, Heftromane zu lesen und gut zu finden? Wie transformiert das Populäre die Serie? Und wie transformiert die Serie die Vorstellungen des Populären, die in den Leserbriefen und Fan-Foren, in Wikis und Fanzines ventiliert werden? Es sind diese methodischen Fragen, die mich dazu gebracht haben, mit einiger Begeisterung meine Silberbände aus dem elterlichen Archiv zurück ins Bücherregal zu holen und Forschungsfragen nachzugehen, deren Beantwortung sich nicht allein in den immanenten Lektüren von Texten ergibt, sondern die Äußerungen, Kritiken, Expertisen, Reflexionen von Leserinnen und Lesern hinzunimmt. Was populär ist, entscheiden nicht vorgefertigte Forschungspositionen, sondern die Leserinnen und Leser, denn nur sie verschaffen einem kulturellen Artefakt, für das kein Rezeptionszwang besteht, zur Beachtung durch viele.

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