Ein Fallbeispiel aus dem frühen 19. Jahrhundert

Die Entgrenzung des Populären wird gemäß den Arbeitsthesen des SFB an zwei Transformationsstufen geknüpft: Zum einen an die 1950er Jahre, in denen mittels quantifizierender Verfahren eine Sichtbarmachung des Populären forciert und darüber Druck auf etablierte Hochkulturen ausgeübt wurde. Zum anderen durch die Popularisierung des Internets im westlichen Kulturraum um 2000, über die den Gatekeepern der etablierten Massenmedien partiell die Kontrolle über Wertungsregime entzogen und in die neuen sozialen Medien verlagert wurde.

Diese Thesen implizieren, dass Populäres in den Jahren vor 1950 zwar durchaus vorhanden war, aber eine Art Schattendasein unter der strengen Kontrolle der Hochkultur führte, die darüber wachte, dass das Populäre nicht in elitäre Diskurse und Kanones einsickerte und damit zur Verwässerung derselben beitragen konnte. Aus dieser Annahme ergeben sich Fragen wie die, ob es in der Zeit vor 1950 überhaupt zu Entgrenzungen des Populären in einer die etablierten Eliten ernsthaft relativierenden Weise gab, welche Akteure dabei eine Rolle spielten und mit welchen Mitteln solche Entgrenzungen des Populären ‚eingehegt‘ wurden. Wir wollen diesen Fragen anhand eines Fallbeispiels aus der Schweiz nachgehen, wo sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auffällige religiös motivierte Phänomene häuften, die trotz ihrer lokalen Beschränkung landesweit für Beachtung und Aufregung sorgten. Als Hauptquelle dient die fast 500 Seiten umfassende im Staatsarchiv Bern aufbewahrte Kriminalakte (Crimminal=Procedur), welche den Fall von den Anzeigen bis zur Verkündung des Gerichtskurteils detailliert dokumentiert.

Kriminalakte zum Mordfall Samuel Marti

Am 25. Juli 1807 verurteilte das Appellationsgericht des Kantons Bern 28 Frauen und Männer aufgrund von „religiösem Fanatismus“ (Crimminal=Procedur, Deckblatt). Sie hatten in der Nacht vom 2. auf den 3. März 1807 während einer religiösen Versammlung in einem Privathaus, teils im Zustand religiöser Verzückung und durch unglückliche Umstände begünstigt, den Altstatthalter des Städtchens Rapperswil Samuel Marti zu Tode gebracht. Die Urteile des Gerichts reichten von 20 Jahren Einzelhaft für die Haupttäterinnen bis hin zu Landesverweisungen bei nur am Rande in die Vorfälle Involvierten. Jacob Baumgartner und Hans Ulrich Körber, denen das Gericht die Hauptschuld anlastete, wurden zu lebenslänglicher Verwahrung verurteilt (Crimminal=Procedur, 671–691). Körber wurde während der Urteilsverkündung und des anschließenden Gottesdienstes in Bern als Irrlehrer und Verführer an den Schandpfahl gestellt (Aktenstücke, 12).

In Anbetracht der Tatsache, dass das Opfer nicht vorsätzlich ermordet worden, sondern vielmehr aufgrund seines Alters und seines allgemein schlechten Gesundheitszustandes (in Martis Lunge wurden bei der Obduktion mehrere Tumore gefunden, einer davon ein ¾ Pfund schwer) im Gedränge ums Leben gekommen war (Crimminal=Procedur, 209f.), stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der obrigkeitlichen Reaktion. Warum reagierte die Obrigkeit hier mit so drastischen Maßnahmen und statuierte womöglich das sprichwörtliche Exempel?

Zentrale Figur im Prozess war der 70jährige, im 100 km von Rapperswil entfernt gelegenen Niederbipp lebende Hans Ulrich Körber, ein charismatischer Wanderprediger, der bei den Behörden einschlägig bekannt war. Wegen des Vorwurfs wiederholt verbreiteter religiöser Irrlehren war Körber in seinem Heimatort festgesetzt worden. Trotzdem predigte er am 22. Februar 1807 in Rapperswil (Crimminal=Procedur, 195), worauf dort eine religiöse Erregung ausbrach, die auf die umliegenden Dörfer übergriff (Crimminal=Procedur, 671) und die mit dem Tod von Samuel Marti in der Nacht vom 2. auf den 3. März ihren traurigen Höhepunkt erreichte.

Auszug aus dem Obduktionsbericht

Im Protokoll des Verhörs von Körber findet sich eine Spur zur Antwort auf die Frage, warum die Obrigkeit im Fall der „Sektierer von Rapperswill“ so harsch reagierte. Körber wurde nämlich gefragt, ob er einen Mann namens Anton Unternährer kenne, was dieser bejahte. Körber gab an, Unternährer im Zuchthaus besucht zu haben – angeblich, um diesen in seiner Lehre, dass er selbst von Gott zum Richter der Menschen erwählt worden sei, zu korrigieren. Schriften Unternährers besäße er jedoch keine und wisse auch nicht, wo sich dieser zurzeit aufhalte (Crimminal=Procedur, 189).

Anton Unternährer (1759–1824) war der Gründer der Antonianer, einer seit ungefähr 1800 hauptsächlich im Kanton Bern in der Schweiz existierenden religiösen Gruppierung. Unternährer sah sich als die Inkarnation Jesu, Richter der Welt, König und Gott. Seine körperlichen Einschränkungen ebenso wie seine angeblichen drei Hoden deutete Körber als Beweis seiner Erwählung und Göttlichkeit, außerdem behauptete er, Mann und Frau zugleich zu sein. Zu den Glaubensgrundsätzen der Antonianer gehörten Gütergemeinschaft und freie Sexualität, außerdem waren sie für die Abschaffung der Ehe und der Schulpflicht. Unternährer schrieb und predigte aggressiv gegen jede Art von Obrigkeit. Regierungen, aber auch Pfarrer, Richter und Lehrer waren für ihn Verdammte. Gottesdienst, Taufe und Abendmahl, so lehrte Unternäherer, seien äußerliche und daher unnütze Zeremonien. Die Mitglieder der Antonianer lebten in ständiger Erwartung des Jüngsten Tages (Müller).

Die von Unternährer verbreiteten Glaubensgrundsätze und die von seinen Anhängerinnen und Anhängern organisierten, oftmals geheimen nächtlichen Versammlungen wurden durch die Obrigkeit streng geahndet. Immer wieder wurden Antonianer vor Gericht gestellt und in Zuchthäuser und Irrenanstalten verbracht (Müller). Die Geschehnisse in Rapperswil ließen offenbar schnell den Verdacht aufkommen, dass es sich bei den Beteiligten um Antonianer handelte, was während des Prozesses nicht eindeutig bewiesen werden konnte, im Nachhinein jedoch als sicher gilt. (Rorschach, 32).

Es war also ganz offensichtlich die zunächst nur vermutete, aber dann belegte Verbindung zu den Antonianern, die die Obrigkeit veranlasste, die „Sektierer von Rapperswil“ so harsch zu bestrafen. Denn die Antonianer stellten auf der Basis ihrer religiösen Überzeugungen nicht nur kirchliche Lehren und Ordnungen, sondern letztlich Grundlagen der öffentlichen Ordnung in Frage. Was sie dabei insbesondere gefährlich machte, war ihre Attraktivität unter der wenig gebildeten Landbevölkerung, die Unternäher auf seinen Predigtreisen vorwiegend ansprach. Es drohte eine Entgrenzung des Populären im Bereich von Religion mit unberechenbaren Folgen für das öffentliche Leben. Dies war angesichts der Infragestellung etablierter Ordnungen und Eliten im Zuge der Französischen Revolution von besonderer Brisanz, denn letztlich ging es um die Aufrechterhaltung bestehender Machtstrukturen und Deutungshoheiten in Staat und Kirche.

Im Prozess um die „Sektierer von Rapperswil“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelang es kirchlichen und staatlichen Eliten in der Schweiz noch problemlos, das entgrenzte religiös Populäre zu reglementieren und entschieden in seine Schranken zu verweisen. Früher oder später erlaubten die rechtlichen Rahmenbedingungen seit dem 19. Jahrhundert aber überall gewisse Verselbständigungen des Religiösen gegenüber amtskirchlichen und obrigkeitlichen Vorgaben. Diese werden meist mit Begriffen wie „Pietismus“ oder „Evangelikalismus“ beschrieben und haben teils großen Einfluss auch auf ganze Gesellschaften gewonnen. Man braucht hier nur beispielhaft die auf evangelikale Einflussnahme zurückzuführenden aktuellen Änderungen im Abtreibungsrecht der USA zu erwähnen. Insofern ist die Frage nach Entgrenzungen des Populären im Bereich von Religion keine nur historische, sondern auch aktuell interessante.

Quellen und Literatur

Aktenstücke enthaltend Anrede an das Volk bey der feyerlichen Eröffnung des höchstinstanzlichen Straf-Urtheils über die 28 Sektierer von Rapperswyl, gehalten durch den ausserordentlichen Regierungsbevollmächtigten des hohen Standes Bern auf dem Marktplatz in Aarberg den 23. August 1807 in Bern.

Crimminal-Procedur wegen Tödtung des alt Statthalters Samuel Marti zu Rapperswyl, als Folge religiösem Fanatismus gegen hierin 28. mehr oder weniger implicierte Personen. Staatsarchiv Bern, Sig. B IX 1090.

Müller, Susanne: Antonianer; Anton Unternährer, CH-Rüthi 1999. Abrufbar unter http://www.relinfo.ch/antonianer/info.html – 11.7.2022.

Rorschach, Hermann: Zwei Schweizerische Sektenführer (Binggeli – Unternährer), nach Vorträgen in der schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, Leipzig, Wien Zürich 1927.