Tagungsbericht Grenzen des Ästhetischen bei Schiller: Das Populäre und das Vulgäre
Am 30. September und 1. Oktober fand an der Universität Siegen im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 1472 ‚Transformationen des Populären‘ auf Initiative des von Michael Multhammer geleiteten Teilprojektes C03 ‚Das Populäre der Anderen. Das Vulgäre zwischen Normativität und Zuschreibung‘ ein Workshop mit dem Thema ‚Grenzen des Ästhetischen bei Schiller. Das Populäre und das Vulgäre‘ statt.
In ihrer Einleitung „Schiller, populär – vulgär. Grenzbereiche des Ästhetischen zwischen Hoch- und Populärkultur“ betonten Viktoria Ehrmann und Michael Multhammer die zentrale Stellung des „unterschätzten Theoretikers“ (Bollenbeck/Ehrlich) Schillers für die Entstehung eines fundierten Diskurses über das Verhältnis von Popularität und gehobener Kunst um 1800. Schiller ging es – wenngleich nicht in systematischer Geschlossenheit – um die Bedingungen der Möglichkeit populärer Werke, die zugleich vollumfänglich dem Kunstanspruch genügen. Vor der Folie einiger Grundannahmen des SFB 1472 wurde eine Heuristik angeboten, auf die in den Diskussionen in der Folge Bezug genommen werden konnte. Der Workshop fand in Kooperation mit dem Tübinger SFB 1391 ‚Andere Ästhetik‘ statt, deren stellvertretender Sprecher Jörg Robert ebenfalls einige Leitlinien des Verbundforschungsprojektes skizzierte. Mit diesem doppelten theoriegeleiteten Blick wurde in die Diskussion der Schriften Schillers übergeleitet.
Astrid Dröse (Tübingen) befasste sich unter dem Titel „Populärer Klassizismus in Schillers Journalen.“ mit Caroline von Wolzogens Dramenfragment Der Leukadische Fels, das in zwei Folgen 1792 in Schillers Zeitschrift Neue Thalia erschien. Wolzogen adaptiert den um 1800 sehr beliebten Sappho-Mythos. In die Gesamtanlage der Zeitschrift fügt sich das Dramenfragment gut ein: zuvor werden Übersetzungsauszüge aus Vergils Aenaeis, u.a. die Dido-Episode geboten, eine Übersetzung von Platons Gastmahl findet sich in derselben Ausgabe. Das Dramenfragment orientiert sich an dem bei Ovid überlieferten Mythos vom Selbstmord der Dichterin Sappho, aber auch Anklänge an Goethes Iphigenie, an den Werther wie auch an Schillers Ode an die Freude sind erkennbar. Bei dem Fragment handle es sich daher, so die These, um ein Beispiel für populären Klassizismus, der der Journalpoetik Schillers entsprach und die Geschmacksnorm des Publikums optimal bediente. Hier zeige sich auch, dass die Weimarer Klassik Anteil an einer neuen ‚midcult‘ (Eco/Baßler) habe.
Ausgehend von Schillers Kanonisierung als Dichter eines ‚ganzen‘, d.h. in seiner Rezeption vereinten „Volks“ ging Viktoria Walters (Innsbruck) Beitrag Schillers Verwendung und Funktionalisierung des ‚Pöbel‘ als Terminus in seinen Dramen nach. Im Rückgriff auf begriffsgeschichtliche Studien wurde der eher pejorative und abgrenzende Gebrauch des Pöbels in ausgewählten programmatischen Schriften und den Dramen untersucht. Der chronologische Überblick zielte darauf herauszuarbeiten, welche semantischen Tendenzen sich in Schillers Verwendungsweise abzeichnen, wie er den Pöbel poetisch funktionalisiert und welche Zuschreibungen die Plebs von den dramatis personae erfährt.
Michael Multhammer (Siegen) versuchte in seinem Vortrag plausibel zu machen, dass in Schillers Konzeption das Erhabene sowie das Niedrige und Gemeine als komplementäre Begrifflichkeiten und Konzepte zu denken sind. Bei der (Re-)Konstruktion der systematischen Zusammenhänge sollten die ästhetischen Grenzphänomene als Teil des gleichen Diskurses sichtbar gemacht werden, eines Diskurses über das Vulgäre und Populäre, in dem Schiller eine Vordenkerrolle einnimmt, indem er klar die Eigenschaften einer hochstehenden Kunstauffassung von bloß populären und daher höchstens angenehmen, niemals aber schönen Werken unterscheidet. Damit schafft Schiller Kategorien, die für mehr als einhundertfünfzig Jahre die maßgebliche Unterscheidung in der Bewertung von Kunst – high culture versus low culture – markieren. Im Zentrum steht die Persona des Künstlers, die letztlich dafür verantwortlich zeichnet, dass ein Kunstwerk gelingt und gerade nicht ins Niedrige und Gemeine abgleitet.
Lydia Rammerstorfers (Wien) Beitrag zu Schillers ‚Die Horen‘ als populäres Journal musste krankheitsbedingt entfallen.
Jochen Venus (Siegen) zog am Ende des Tages respondierend eine erste Summe und versuchte die vorgestellten Beiträge hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine Theorie des Populären zu explorieren. Dergestalt abstrahierend wurden noch einmal ganz neue ideengeschichtliche Linien deutlich, die weit bis ins 20. Jahrhundert hinein zu verfolgen und die bei Schiller bereits deutlich angelegt sind.
Der zweite Tag begann mit einem Vortrag von Viktoria Ehrmann, der sich ausgehend von der ‚Schiller-Bürger-Kontroverse‘ mit dem divergierenden Popularitätsverständnis Friedrich Schillers und Gottfried August Bürgers beschäftigte. Bürgers rein quantitative Übersetzung des Populären lehne Schiller konsequent ab und setze ihm stattdessen ein Konzept wünschenswerter Popularität entgegen, welches nun als Gütesiegel moralischer und ästhetischer Vollendung fungiere. Ziel des Vortrags war es, Schillers ambivalente Begriffsverwendung des Populären herauszuarbeiten und zu verdeutlichen, dass es mit seiner Aufwertung des Populären zum Verlust einer Beschreibungskategorie für die als störend erlebte, ästhetisch minderwertige, rein quantitativ verstandene und daher abzulehnende Popularität komme. Vor diesem Hintergrund wurde diskutiert, ob das Vulgäre – als das Populäre der Anderen – zur pejorativen Gegenkategorie der positiv bewerteten Popularität avanciere und sich bereits in Schillers Bewertungen von ‚platt‘, ‚gemein‘ oder ‚unedel‘ - zumindest auf onomasiologischer Ebene – langsam bahnbreche.
Jörg Roberts (Tübingen) Vortrag trug den Titel „Mist im Sonanzboden – Schillers Poetik des Vulgären und das Problem des Realismus“. In Schillers dramatischem Werk – so Robert – dominieren zwei unterschiedliche ästhetische Tendenzen und Poetiken: Während das Frühwerk – v.a. Die Räuber, Fiesco und Kabale und Liebe – von einer Tendenz zu verbaler und performativer Drastik bestimmt ist, die sich als proto-realistisch bzw. naturalistisch bezeichnen lässt, wendet sich Schiller mit dem Wallenstein einer Ästhetik der Distanz zu, die im Namen des Künstlichen und Symbolischen jedem „Naturalism“ in der Kunst den Krieg erklärt, wie Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina betont. Ausgehend von Kabale und Liebe, das schon Erich Auerbach in die Vorgeschichte des literarischen Realismus eingeordnet hatte, fragt der Beitrag nach dem verschütteten Realisten im Idealisten Schiller. Schiller lotet in seinem bürgerlichen Trauerspiel ästhetische Grenzzonen aus, indem er v.a. in den Musikus Miller-Szenen eine Poetik des Vulgären entfaltet, die er später in seinen Gedanken über den Gebrauch des Niedrigen und Gemeinen in der Kunst weiter verfolgt. Auch die Bürger-Rezension mit ihrer beißenden Kritik an Bürgers Konzept des Populären umkreist das ästhetische Grenz- und Sonderphänomen des Niedrigen und Gemeinen. Sprachpurismus und Stilkritik bilden hier den Referenzrahmen. Nimmt man all diese Zeugnisse zusammen, so zeichnet sich eine ‚andere Ästhetik‘ Schillers ab, die wichtige Impulse für den Realismus des 19. Jahrhunderts liefert.
‚Nähe und Distanz. Schillers Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie.‘ lautete Der Vortragstitel von Thomas Boyken (Oldenburg). In der Schillerforschung wurde Schillers Die Braut von Messina oft eine Sonderrolle zugeschrieben, indem auf den experimentellen Charakter der Chortragödie hingewiesen wurde. Ferner wurde in Schillers Vorrede zur Braut von Messina der Kunstcharakter, den er dem Chor zuspricht, tendenziell überbetont. Dass Schiller auch den Illusionscharakter eines Dramas goutiert, wurde hingegen meist ignoriert. Die dramenpraktische Umsetzung des Chores in Die Braut von Messina entspricht, so die Leitthese des Vortrags, durchaus dem dramentheoretischen Entwurf: Der Chor vermittelt zwischen ‚Illusion‘ (einem Element des Populären) und ‚Kunstcharakter‘, er bringt Sein und Schein zum Schwingen.
Björn Thesing (Siegen) widmete sich in seinem Vortrag dem Populärem als wirkungsästhetisches Konzept in Schillers Kulturkritik. Grundlegend war die Beobachtung, dass Schillers kulturkritische Schriften in ihrer Wirkabsicht einerseits im Traditionszusammenhang der Popularphilosophie des späten 18. Jahrhunderts stehen und andererseits, dass die Kulturkritik nach dem Befund Georg Bollenbecks selbst einen Artikulationsmodus darstellt, der in seiner Ausrichtung auf Breitenwirkung nach gerade dann eine ambivalente Popularisierungslogik offenbart, wenn sie sich gegen den Zeitgeist selbst richtet. In einer Fallstudie zum neunten Brief in Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen wurde anschließend gezeigt, wie das Spannungsfeld vom ‚Populären‘ und ‚Unpopulären‘ unweigerlich logische Aporien erzeugt. Auflösen ließen sich diese unter Zuhilfenahme erkenntnistheoretischer Konzepte wie dem der produktiven Einbildungskraft, das Schiller im diskursiven Umfeld vor und nach den ästhetischen Briefen skizziert hatte und in Brief neun stillschweigend vorauszusetzen scheint.
Dieser Workshop zu den Grenzbereichen des Ästhetischen bei Schiller soll zudem den Auftakt zu einer Reihe weiterer Veranstaltungen zur Ästhetik und Poetik Friedrich Schillers bilden, das Populäre als zentralen Reibungspunkts in Schillers Denken fernerhin zu konturieren.