‚You may also like‘ -Ästhetische Wertungen in der Popkultur (2023)
Wie funktionieren ästhetische Wertungen in der Popkultur? Folgen sie noch immer autonomieästhetischen Maßstäben oder haben sich eigene Parameter herausgebildet? Wie artikulieren sich diese Wertungen? Ob es sich um sprachliche Urteile in Reaction-Videos, Rezensionen und Reddit-Threads oder andere (kodifizierte) Formen der Wertung wie Likes, Klicks oder Rankings handelt, ob sie bewusst oder unbewusst, in einem Feuilleton oder auf Spotify getroffen werden – Wertungen durchziehen die gesamte Popkultur.
Ziel des Workshops ‚Ästhetische Wertungen in der Popkultur‘, der am 13. und 14. Oktober 2022 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1472 ‚Transformationen des Populären‘ und unter Leitung des Teilprojektes A02 ‚Pop-Ästhetiken‘ stattfand, war die differenzierte Betrachtung dieser vielfältigen Wertungsformen, gerade in ihrem Verhältnis zu etablierten ästhetischen Diskursen. Der Workshop gliederte sich in zwei Teile: Am ersten Tag präsentierten die Teilnehmenden ihre Thesen zur pop-ästhetischen Theorie und spezifischen Wertungsphänomenen in Vorträgen, am zweiten Tag fand eine Diskussion konkreter Beispiele aus der pop-kritischen Praxis statt.
Thomas Hecken (Siegen) eröffnete den Workshop und formulierte das Vorhaben, ästhetische Prämissen von Pop-Begriffen zu prüfen, die auf mehr als eine Abkürzung des Begriffs ‚populär‘ zielen. Anschließend referierte er stellvertretend für Simone Winko (Göttingen) auf Basis eines zur Verfügung gestellten Skripts ihre Thesen zur Funktionsweise literarischer Wertungen. Winko identifiziert sechs Komponenten, die literarische Wertungen bestimmen: eine wertende Person (A), einen gewerteten Gegenstand (B), einen Adressaten (C), einen Aspekt, unter dem der Gegenstand gewertet wird (D), einen Wertmaßstab (E) sowie Zuordnungsvoraussetzungen (F), die (meist konventionalisierte) Grundlage sind, um Objekteigenschaften mit Werten verknüpfen zu können.
Zur Kombination dieser Komponenten stellt Winko eine Formel auf: „A schreibt B für C unter dem Aspekt D mit Bezug auf den Maßstab E unter Voraussetzung von F die Eigenschaft zu, positiv oder negativ zu sein“. Bei aller Regelhaftigkeit betont sie die Komplexität (ästhetischer) Wertung, die sich etwa durch Diskursregeln oder Hierarchien ergibt. Als besonders anschlussfähig für den Workshop erwies sich die Unterscheidung zweier Modi literarischer Wertung: die Anspruch auf Intersubjektivität erhebende Anerkennungswertung und die offen subjektive Gefallenswertung. Gerade die Gültigkeit dieser Unterscheidung wird in Pop-Kontexten oft bestritten.
Ralf von Appen (Wien) widmete sich der Wertung „populärer Musik“ und brachte eine autobiografische Perspektive ein. Er reflektierte seine Rezeption der Alben …And Justice For All! (Metallica, 1988) und Main Offender (Keith Richards & the X-Pensive Winos, 1992), stellte an ihr die Zeitgebundenheit ästhetischer Urteile sowie kontextuelle (Rezension in der Bravo), musikalische (perfektionistisches vs. lockeres Spiel) und personenbezogene (Projektion der Eindrücke auf die Musiker) Faktoren dar. Die Möglichkeit objektiver Wertung zweifelte von Appen vor diesem Hintergrund an und plädierte stattdessen für eine Trennung zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und subjektiver Wertung. Am Ende gab er einen Ausblick auf die (selbstbeständige) Dynamik von Listen und ihre Bedeutung als nicht-sprachliche Wertung in Pop-Musik-Kontexten.
Dem Konnex von Affekt und Wertung widmete sich Elena Beregow (München) und entfernte sich dabei noch weiter von sprachlichen Wertungen. Am Beispiel Spotify sah sie durch Likes, den taktilen Aspekt von Bildschirmberührungen, Mood-Playlists und schlafwandlerisches Hören eine Abkehr von informierten Pop-Diskursen und eine Tendenz zu Affekten und Mikroentscheidungen. Diese beeinflussen den Spotify-Algorithmus, dessen Funktionieren wiederum das schlafwandlerische Hören ermöglicht. Anhand von Reddit-Posts und Memes skizzierte Beregow zugleich, wie der Algorithmus als opakes Phänomen personalisiert und selbst als wertende Instanz figuriert wird. Diese Mischung aus affektiven Mikroentscheidungen und ‚Wertungen‘ des Algorithmus fordere die Polarität von Subjekt und Objekt, die auch Winkos Modell strukturiert, heraus.
Welche Rolle sprachliche Werturteile in Blurbs spielen, erörterte Erika Thomalla (Berlin). In einer historischen Darstellung konturierte sie die Popliteratur als Katalysator des Blurb in Deutschland und wies ihn vor allem in Verlagsvorschauen von Kiepenheuer & Witsch aus den 1990er Jahren nach. Nicht-renommierte Personen verfassten hier oft ekstatische kurze Begleittexte, die sich deutlich vom Habitus professioneller Literaturkritik unterschieden. Die durch Blurbs entstehende Vernetzung beschrieb Thomalla ästhetisch sowie als Popularisierungsstrategie (‚you may also like‘), stellte gerade bei Beispielen aus der Popliteratur jedoch zusätzlich einen spielerischen, reflexiven Charakter fest.
Jens-Christian Rabe (München) berichtete abschließend von seiner Tätigkeit als Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und theoretisierte die eigene pop-kritische Praxis. Deren Hintergrund skizzierte er mit der von Diedrich Diederichsen postulierten Zäsur der nach-populären (fonografisch bzw. fotografisch aufgezeichneten, nicht mehr durch starre high/low-Dichotomien strukturierten) Künste ab den 1960er Jahren, die neue Maßstäbe erfordere. Pop-Musik-Kritik müsse demnach stets auch auf eine breitere Gegenwart blicken und aktuelle ästhetische Begriffe eher beobachten bzw. durch diese Kategorien auf die Gegenstände schauen, als sie sich direkt anzueignen. Diskutiert wurde, ob es sich dabei um eine Pop-Haltung oder eher um eine Distanz zur etablierter Kunstrezeption handele.
Am nächsten Tag schloss der Workshop mit einer Diskussion von Rabes Rezension des Albums Influencer der Rapperin Haiyti (2020) nahtlos an diese Frage an. Auch hier spielten Kunstdiskurse (Genieästhetik) ebenso eine Rolle wie eine ambivalente Haltung zu tradierten Pop-Kategorien (Genre), die hier überschritten werden mussten. Sprachlich orientiere sich der Text teils an seinem Gegenstand, wobei sich deskriptive Passagen und Superlative abwechseln. Er verorte sich in einem feuilletonistischen Diskurs, stelle aber auch Vergnügen aus und möchte Rap, so Rabe, auf der Höhe seiner Komplexität begegnen. Fraglich schien nicht nur erneut, ob diese Haltung ‚Pop‘ sei, sondern auch, ob der Fokus auf einen Gegenstand nicht doch moderne Kunsttopoi aufrufe.
Die Frage nach solchen pop-spezifischen Kategorien richtete sich auch an Gerrit Bartels Text Damit kann man arbeiten, eine 2000 erschienene Einschätzung zur Popliteratur. Pop fungiere darin als Zauberwort, dessen Effekt und Geheimnis-Aura wichtiger schien als eine scharfe Definition. Erneut spiele Identifikation eine Rolle, verstärkt aber auch politische Lesarten, die den Pop-Begriff ebenso in Frage stellten wie Gatekeeper der Hochkultur. Eine kapitalismuskritische Auslegung von Pop fand sich in Fullamusa Banguras 2021 veröffentlichtem Text anlässlich eines Jubiläums der Rapperin Lilʼ Kim, deren Haltung die Diskussion hier vereindeutigt und in ein identitätspolitisches Projekt integriert sah.
Zwei gegensätzliche frühere Beispiele schlossen den Tag ab: Wo Greil Marcusʼ Rezension zu Let It Bleed (The Rolling Stones, 1969) als klassisch hermeneutisch eingeschätzt wurde (typischerweise unter dem Zeichen von ‚Rock‘), überraschte der starke Fokus auf Körper, figurierte Szene und anekdotisches Erzählen in Ellen Willisʼ Rezension eines David Bowie Konzerts von 1972. Alle analysierten Texte zeigen Versuche, der Autonomie-Ästhetik zu entkommen, unterliegen ihr in vielen Fällen jedoch auch, vor allem im Anspruch auf Originalität und Innovation. Eine klar definierte Pop-Ästhetik ist darum nur in Spuren erkennbar.