Die publizistische Infrastruktur des Internets bietet ungezählte Möglichkeiten, Ereignisse, Texte oder Menschen zu kommentieren – auf den Onlineauftritten etablierter Medien, auf Rezensionsplattformen, auf Blogs oder persönlichen Internetseiten, und insbesondere in den sozialen Medienplattformen. Auf Twitter etwa finden sich Tweets, die eine Art sekundären Status einzunehmen scheinen, weil sie sich auf einen bereits verfertigten Tweet beziehen. Im Jargon werden diese Tweets Drüko (Kommentar zum eignen Tweet bzw. Drüberkommentar) oder Druko (Antwort auf einen Tweet bzw. Drunterkommentar) genannt. In beiden Fällen handelt es sich um Kommentare. Kommentare tragen zur Beachtung eines Tweets bei, aber willkommen sind sie deshalb nicht immer, da sie auch einen unerwünschten Deutungs- oder Wertungsrahmen herstellen können.
Mit diesem Zusammenhang von Kommentar und Konflikt in Social Media und auf digitalen Plattformen wird sich im Sommersemester 2022 eine Cooperative Research Group (CRG) befassen, in der zwei Teilprojekte des SFB (A01 und B03) mit zwei Fellows: Carolin Amlinger und Johannes Franzen zusammenarbeiten. Unsere Ausgangsbeobachtung ist dabei: Der Kommentar macht den Text; oder, vorsichtiger formuliert, Kommentare schreiben den Text fort, insofern sie im selektiven Bezug auf einen Text seine Rezeption ganz entscheidend prägen. Wer Kommentare liest, bevor der Text selbst rezipiert wird, weiß schon, wie der Text verstanden werden kann. Drukos und Drükos beispielsweise machen deutlich, wie ein Tweet zu lesen ist, und man kann dem folgen. Für alle, die Tweets in der Timeline ihres eigenen Accounts lesen (und nicht etwa als Zitat in anderen Medien ohne die typischen Paratexte der Plattform), ist es schier unmöglich, diese im Kommentar vorgeführte Möglichkeit des Verstehens bei der eigenen Rezeption des Tweets völlig zu ignorieren.
Leserïnnen, die auf dem Weg zur Lektüre des Textes zunächst eine Passage von Kommentaren durchschreiten, bringen jene hermeneutische Vorurteile in die Lektüre ein, die Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode (Tübingen 1975, S. 261) als »Bedingungen des Verstehens« beschrieben hat. Kommentare, und dies gilt natürlich nicht nur für Comments auf Twitter, sind gleichsam kondensierte »Wirkungsgeschichte« (S. 284). Denn ihre Rezeption bestimmt »die geschichtliche Situation des Interpreten« mit und prägt das Verstehen des Textes, das grundsätzlich »kein reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten« sei (S. 280), ein Verhalten, also eine Praktik, die räumlich und zeitlich, sozial und kulturell immer konkret situiert ist. Zur „hermeneutischen Situation“ (S. 285) zählt also auch der Kommentar. Er leistet »eine interpretatorische Transformation“ (Till Dembeck, Florian Neumann, Nicolas Pethes, Jens Ruchatz: »Epitexte«, in: Handbuch Medien der Literatur, hrsg. von Natalie Binczek, Till Dembeck, Jörgen Schäfer, Berlin 2013, S. 518-535, S. 520)
Für den SFB 1472 Transformationen des Populären ist dies eine fruchtbare Einsicht. Der Fokus, den das Forschungsprogramm auf die automatisierte Popularisierung zweiter Ordnung in den sozialen Medien legt (Döring et al. 2021, S. 15), kann hier operationalisiert werden. Genuin neue, originäre Beiträge finden in den sozialen Medien nur in den seltensten Fällen unkommentiert ihre Leserïnnen: Weil ein Account, dem wir auf Twitter folgen, die »Rede oder Schrift« eines »Autors« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 172) in einem Tweet eingebettet hat, schenken wir dem »Original« überhaupt Beachtung. Und die Wahrscheinlichkeit, dass wir den Kommentar und dann auch das Kommentierte zur Kenntnis nehmen, steigt mit der Beachtung, die der Tweet in Form von Kommentaren bereits gefunden hat: Sind es einige, viele, Tausende oder Abertausende, die den Text schon kommentiert haben? Dies unterscheidet den Comment eines Tweets vom gedruckten Kommentar als Paratext eines gedruckten »Werks«. Denn im Falle eines kommentierten Tweets ist ganz genau bekannt, wie viele oder wenige einen Tweet beachten, weil die Plattform Twitter instantan die je aktuelle Zahl der Comments, der Likes und der Retweets im digitalen Peritext anzeigt, der jeden Tweet umgibt.
Es hängt also einerseits vom eigenen Nutzungsverhalten ab (wem folge ich?), in welchem Rahmen etwa die Ankündigung eines neuen Romans erscheint. Hier zu sehen am Beispiel von Uwe Tellkamp. Und es kommt anderseits auf den spezifischen Beachtungsmechanismen einer Plattform und ihrer Algorithmen an, ob ein solcher Kommentar (von Louis Berger oder vom BuchHaus Loschwitz) größere oder geringere Beachtung gefunden hat (durch Comments, Likes und Retweets). Ob und wie »eine interpretatorische Transformation“ stattfinden kann, ist eine Frage der Beachtung, und diese Beachtung wiederum eine Frage der Verteilung. Sie ist (im Blog Kultur & Kontroverse) mit Blick auf Tellkamps Roman bereits gestellt worden: »Sollte man da nicht über die Verteilungsmechanismen nachdenken, nach denen diese Sichtbarkeit vergeben wird?« Ja, das sollte man.
Comments, Likes und Retweets umgeben den Tweet, und die entsprechenden Counter rahmen auch den Kommentar, mit sehr unterschiedlichen Werten, wie an den Beispielen zu sehen ist (Louis Bergers ironische Kommentierung der Verlagsankündigung des neuen Romans von Tellkamp erfährt größere Beachtung als die Werbung des neurechten Buchhauses Loschwitz mit signierten Erstausgaben.) Wir werden diese Rahmung als digitale Paratexte beschreiben: In struktureller Analogie zu einem Text, der immer in einer konkreten materiellen Gestalt rezipiert wird, etwa als Buch mit Titelei und Umschlag, mit Autorenfoto und Preisangabe, mit Blurb und Gattungsangabe, mit Widmung und Verlagsangabe, präsentieren sich auch Social Media-Beiträge der Leserschaft immer mit einem spezifischen »Beiwerk«.
Der Technikgeschichte und die Funktionen dieses digitalen Paratextes geht eine Publikation des SFB-Teilprojekts B03 im Fall von Facebooks Account-Namen nach (Paßmann et al. 2022). Neben dem Account-Handle finden sich auf den Plattformen weitere »Beiwerke«, die jeden »Text« umgeben und eine Form geben: Das Datum der Publikation, Format und Layout, Counter, die die Zahl der Likes, Retweets, Comments, Streams, Clicks oder Downloads messen, weitere Angaben zum Account wie Namen, Foto, Hintergrund, Claims, Ort, Geburtstag, Alter des Accounts. Gérard Genette hat diesen integralen Zusammenhang von »Werk« und »Beiwerk«, der für ihn im gedruckten »Buch« manifest wird, als Einheit der Differenz von Text und Paratext beschrieben (Paratexte. Frankfurt: Suhrkamp 2001, S. 10).
Dieser Blick auf das »Buch« hat sich nicht zuletzt deshalb als fruchtbar für die Forschung erwiesen, weil deutlich wird, dass es mit Textanalysen allein nicht getan ist, da die Paratexte unvermeidlich »jede Lektüre steuern«. Es hängt von der Ausstattung des Buches, den Vorannahmen über einen Verlag oder eine Reihe, von der Kurzbiographie der Autorïnnen oder dem Hinweis auf das Genre auf dem Titel ab, wie gelesen und gewertet wird. »Die Wege und Mittel des Paratextes«, so Genette, »verändern sich ständig je nach Epochen, den Kulturen, den Autoren, den Werken und den Ausgaben ein und desselben Werkes, und zwar mit bisweilen beträchtlichen Schwankungen« (S. 11).
Ein Tweet dagegen, ein Facebook-Post, ein YouTube-Video, ein Beitrag auf Instagram sind von Paratexten gerahmt, die sich permanent (also nicht von »Ausgabe« zu »Ausgabe«), schon allein deswegen verändern, weil sich die Informationen aus der Beachtungsmessung der Counter, die zum »Beiwerk« des Beitrags zählen, unaufhörlich aktualisieren. Mag sich am Text eines Tweets nichts ändern, so verändert sich doch der digitale Paratext des Tweets permanent – allein durch die Nutzung der Plattform selbst. Der Text ist keine lineare Erzählung, sondern ein verschlungenes, vertikales Geflecht mehrerer Texte (vgl. Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare: Unruhiger Garten der Seele. Berlin: Suhrkamp 2022). Die Einheit von Text und Paratext ist also, streng genommen, niemals stabil wie im Fall der Buchausgabe »ein und desselben Werkes«, sondern immer in Bewegung. Es bedarf also spezifischer zusätzlicher Leistungen, um einen Beitrag zu stabilisieren oder, mit anderen Worten, das Verstehen in bestimmte Bahnen zu lenken und andere Möglichkeiten der Rezeption unwahrscheinlich werden zu lassen.
Genau darin liegt eine Funktion des populären Kommentars: Die Anschlussfähigkeit eines Beitrags in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne die Richtung aber selbst steuern zu können. Der vielfach beachtete Kommentar, der den Text genauso umgibt wie die Counter des digitalen Peritextes, stabilisiert die Art und Weise, wie Information und Mitteilung eines Beitrags unterscheiden und aufeinander bezogen werden, also verstanden werden, wie sich Gadamers Überlegungen systemtheoretisch reformulieren ließen (Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 212). Kommunikation ist »koordinierte Selektivität« (S. 217), und der Kommentar koordiniert die Selektivität der Kommunikation, insofern er »für jeden« Beteiligten als »Kontext« eines Beitrags »fungiert« (S. 217) – und dies genau dann, wenn im Falle sozialer Medien die automatisierte Popularisierung zweiter Ordnung dafür sorgt, dass bestimmte Kommentare von vielen beachtet werden (head) und beliebig viele andere Kommentare kaum oder gar nicht beachtet werden (long tail. Zu dieser Ungleichverteilung von Popularität vgl. Chris Anderson: The Long Tail, New York: Hyperion eBooks 2008).
Für den Kommentar in Social Media ließen sich einige Arbeitshypothesen unserer CRG formulieren:
- Beiträge in sozialen Medien sind ebenfalls, wie Genettes „Bücher“, eingebettet in ein »Beiwerk«: den digitalen Paratext.
- Ob und wie ein Beitrag rezipiert wird, hängt (auch) von diesem digitalen Paratext ab, der, im Unterschied zum Paratext eines Buches, in vieler Hinsicht fluide ist. Die Zahl der Likes oder Retweets, aber auch der Kommentare eines Beitrags wird ständig aktualisiert.
- Auch die Popularität von bestimmten Kommentaren oder Zitationen kann sich jederzeit ändern. Die für Social Media typische Transformation des Populären (Beachtung von vielen wird indiziert und führt zu größerer Beachtung oder zur Nicht-Beachtung: power law distributions. Vgl. Albert-László Barabási: Linked. How Everything Is Connected to Everything Else and What It Means for Business, Science, and Everyday Life, New York: Perseus 2003) sorgt dafür, dass nicht alle, sondern nur ganz bestimmte Kommentare die Anschlussselektivität eines Beitrags koordinieren bzw. ein bestimmtes Verstehen des Beitrags konstituieren – und andere Kommentare überhaupt keine Beachtung finden.
- Wenn die Anschlussselektivität in eine bestimmte Richtung läuft und dem Tweet zwar Beachtung verschafft, aber zugleich eine unerwünschte Bedeutung popularisiert, kommt es zu Konflikten, die in der Arena der Popularisierung zweiter Ordnung geführt werden. Es kommt auf die Beachtung der Beachtungsmessung an.
- Um die Kommunikations- und Konfliktdynamik auf Social Media-Plattformen besser beschreiben zu können, ist es also sinnvoll, den digitalen Paratext aus Countern und Comments von Beiträgen als fluides „Beiwerk“ von Beiträgen oder Posts zu untersuchen.
- Kommentare können als Beobachtungen von Beobachtungen, als Beobachtungen zweiter Ordnung verstanden und daraufhin befragt werden, an welche Beobachtungen erster Ordnung sie anschließen und welche Rolle die Popularisierung zweiter Ordnung für das Zustandekommen und die Wertungsimplikationen der Anschlusskommunikation spielt.
Dass (oder ob) es sich lohnt, Kommentare und Counter als digitale Paratexte zu beschreiben und als konstitutiv für das Verstehen bzw. Anschlusspraktiken (Gadamers situiertes »Verhalten«) auf Social Media-Plattformen zu begreifen, möchten wir in der CRG am Beispiel von Konflikten öffentlicher Wertungskommunikation überprüfen.
Unter Wertungskommunikation verstehen wir Urteile in Fragen des Geschmacks, der Moral oder der politischen Meinungsbildung, die um Zustimmung (bestimmtes Anschlusshandeln) werben, diese aber nicht erzwingen können: Werturteile können nicht auf Macht, auf eine bereits bestehende Einigung über Verfahrensregeln, auf wissenschaftliche Wahrheit zurückgreifen, um bestimmte Anschlusskommunikation wahrscheinlich zu machen. Die Androhung von Gewalt wird kaum dazu führen, einen Beitrag für interessant oder wichtig, ein Kunstwerk für gelungen oder spannend zu halten. Ein noch so geregeltes, paragerichtliches Verfahren vermag nicht sicher zu stellen, dass eine Meinung goutiert wird. Eine wissenschaftliche Reflexion lege artis kann nicht erzwingen, dass eine moralische Verurteilung auf Zustimmung stößt.
Kommentare machen dagegen, wenn sie große Beachtung finden, durch ihre Popularität eine bestimmte Weise des Verstehens des Beitrags bzw. ein bestimmtes politisches, ästhetisches oder moralisches Urteil wahrscheinlich – in etwa so, wie ein prominenter Gesetzeskommentar die Ausbildung von Juristïnnen prägt und das Sprechen von bestimmten Urteilen in einer Sache wahrscheinlicher macht. Und zugleich wird diese Wertungskommunikation, an der ein Social Media-Beitrag teilnimmt, durch die große Beachtung legitimiert. Dies ist hingegen im oben genannten Beispiel ganz und gar nicht so, weil die Legitimation im Rechtssystem durch Verfahren erfolgt und nicht durch den Hinweis auf die Popularität einer Meinung zum Fall.
Ob etwas sagbar ist oder unsagbar, als smart oder dumb, spannend oder langweilig, hängt in den sozialen Medien also vom Kommentar und von der Popularität des Kommentars ab – und nicht zuletzt vom Kommentierenden. Was nicht kommentiert wird, ist auch nicht in der Welt, ließe sich eine alte Einsicht (quod non est in actis, non est in mundo) reformulieren. Beiträge auf Social Media-Plattformen können alle nur denkbaren Urteile über beliebige Artefakte, Personen oder Sachverhalte kommunizieren; eine Rolle spielt dies erst, wenn diese Beiträge kommentiert und diese Kommentare populär werden. Ob sie es sind, entnimmt jeder social media user den digitalen Paratexten.
Die CRG Kommentar und Konflikt befasst sich insofern im laufenden Sommersemester mit einem Thema, das beide involvierten Projekte und beide Fellows bereits länger beschäftigt, allerdings in der Cooperative Research Group gebündelt und auf den Rahmen des SFB bezogen wird:
Das Projekt B03 (Paßmann, Helmond, Gerzen, Jansma) erforscht die Popularisierungsgeschichte des Online-Kommentars ab den frühen 1990er Jahren.
Das Projekt A01 (Stein, Werber, Haas, Deckbar) untersucht (u.a.) die Serienevolution populärer US-amerikanische Superheldencomics und deutsche Science-Fiction-Heftromane auf dem Interaktionsfeld von Rezipientïnnen und Produzentïnnen, das vor allem in Peritexten, Epitexten und Metatexten zu beobachten ist: in den Leserbriefspalten und Herausgeberkommentaren im Heft, der schriftlichen und bildlichen Fankommunikation in Foren und Fanzines, in serienspezifischen Wikis und Archiven. Wie konfliktträchtig Kommentare im digitalen Paratext der Serien sind, hat eine Vorstudie zu einem Perry Rhodan-Online-Forum erwiesen (Werber 2017).
Johannes Franzen untersucht den Kommentar als Instrument der feuilletonistischen Kommunikation, die im Rahmen der digitalen Machtverschiebung im kulturellen Feld stark dezentralisiert wurde. In diesem Kontext erscheint die Kommentarfunktion etablierter Medien auch als Ort, an dem die Professionalität und Autorität dieser Medien herausgefordert werden kann.
Carolin Amlinger erforscht die Kommentierung der Kommentare in der analogen literarischen Öffentlichkeit. Diese Kommentare zweiter Ordnung sind Anschlusshandlungen eigener Art: Sie reagieren auf die Wertungskommunikation sozialer Medien und partizipieren in Abwesenheit an ihr. Im Fokus stehen die konfliktbehafteten Interferenzen von kommentierenden Techniken der Inklusion und Exklusion, welche die »Publikationsordnung“ von Literatur (was wird wie öffentlich gemacht?) entscheidend verändern.