Exper­tise und ihre Titel. Kurze Explo­ra­tion ausge­wähl­ter Tele­gram-Grup­pen im Kontext der Sars­CoV2-Pande­mie (2022)

[Dieser Beitrag in der Reihe „Populäre Expertise“ erscheint parallel auf dem Blog des SFB 1472 „Transformationen des Populären“ und - in einer Kurzversion - auf dem KWI-Blog.]

Titelhäufigkeit als Indikator

Die gesellschaftliche Relevanz wissenschaftlicher Expertise hat sich durch die Sars-CoV2-Pandemie fraglos erhöht. Vielleicht mehr denn je ist solche Expertise allerdings zum Konfliktfall geworden: Wer als Expert:in gilt, wird in unterschiedlichen Milieus unterschiedlich verhandelt, mitunter gar umkämpft: Ist Karl Lauterbach Experte für Epidemiologie oder letztlich ‘nur’ Politiker mit politischen Interessen? Sind Sucharit Bhakdi und Stefan Homburg als ordentliche Universitätsprofessoren nicht über jeden Zweifel erhaben – oder dürfen sie gar nicht mehr als Fachleute angesehen werden? Die Gründe für Auseinandersetzungen mögen absurd erscheinen, geführt werden sie aber dennoch.

Wir haben deshalb explorativ untersucht, wie Expertise in Telegram-Gruppen in Stellung gebracht wird, die explizit und grundlegend politische und wissenschaftliche Mehrheitspositionen im Kontext der Pandemie ablehnen. Dadurch wollten wir genauer verstehen, wie Expertise gegenwärtig dort hergestellt und ausgehandelt wird, wo die tradierten Regeln akademischer Reputationsproduktion ausgesetzt scheinen. Deshalb haben wir uns mit dem sichtbarsten und in großer Zahl gut zu untersuchendem Signum wissenschaftlicher Reputation befasst: akademischen Titeln.

Unsere Ausgangsbeobachtung war, dass in den einschlägigen Gruppen, in denen offenbar ein grundlegend wissenschaftsfremdes, teils gar wissenschaftsfeindliches Klima herrscht, akademische Reputation trotzdem eine Rolle spielt. In den Gruppen finden sich etwa Beiträge mit regelrechten Titel-Haufen, wie zum Beispiel:

“VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER“ Prof. Dr. Dr. Martin Haditsch, Prof. Dr. Carsten Scheller, Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, Prof. Dr. Stefan Hockertz, Prof. Dr. Jochen A. Werner, Prof. Dr. John lonannidis, Prof. Dr. Yoram Lass, Prof. Dr. Pietro Vernazza, Prof. Jay Bhattacharya, Prof. Erich Bendavid, Prof. Hendrik Streek1, Prof. Karin Mölling, Prof. Maria Rita Gismondo, Prof. Frank Ulrich Montgomery, Dr. Jaroslav Belsky, Dr. Klaus Köhnlein, Dr. Bodo Schiffmann, Dr. Joel Kettner, Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Mark Fidigge, Dr. Karl J. Probst, Dr. Jenö Ebert, Dr Géhard Krause, Dr. Yanis Roussel, Dr. David Katz, Dr. Heiko Schönning, Dr. Michael T Osterholm, Dr. Peter Goetzsche.

„NICHT Verschwörungstheoretiker“ Prof. Drosten Lothar Wieler RKI Bill Gates Spahn”2

Die Einteilung in die eigenen Expert:innen und die gegnerischen ist freilich an dieser Stelle arbiträr. Aber Nennung und Auslassen der Titel (wie etwa hier bei Lothar Wieler) wird offenbar strategisch als Praktik der Aufwertung vermeintlicher Allianzen und der Abwertung vermeintlicher Gegner:innen genutzt: Wo so viele Titel sind, können keine “Verschwörungstheoretiker” sein.

Wird jemand mit Titel genannt, so unsere Annahme, wird damit ein spezifischer Geltungsanspruch für Expertise erhoben. Das übermäßige Vorkommen an Titeln ließe sich so als Signal dafür lesen, dass Expertise nicht als selbstverständlich angesehen wird: Wer fraglos Experte ist, dessen Expertise muss nicht aktiv beansprucht werden; sie ist gegeben.

Unsere Erwartung war deshalb, dass jemand mit hohem akademischen Rang, aber fragwürdigen Argumenten wie Bhakdi oder Homburg häufiger mit Titeln genannt wird als jemand wie Christian Drosten, dessen Expertise breit anerkannt, in den untersuchten Telegram-Gruppen aber bestritten wird. Wir haben deshalb in den Telegramgruppen die Korrelation ausgewählter Professor:innennamen mit ihren Titelnennungen im zeitlichen Verlauf untersucht.

Sampling

Für die Auswertung standen uns Daten aus 980 deutschsprachigen Telegram-Gruppen und -Kanälen3 zur Verfügung, die wir von März 2020 bis Juni 2021 gesammelt haben. Kriterium für die Aufnahme ins Sample war, dass in den Gruppen explizit und umfassend politische und wissenschaftliche Mehrheitspositionen im Kontext der Sars-CoV2-Pandemie abgelehnt wurden. Innerhalb dieses Samples von 17 Millionen Nachrichten haben wir 1,3 Millionen identifiziert, in denen Namen von deutschsprachigen Expert:innen erwähnt werden – also Personen, die entweder innerhalb der Gruppen oder im breiteren medialen Diskurs jenseits dieser Gruppen als Expert:innen gelten.4 Innerhalb dieser 1,3 Millionen Telegram-Posts haben wir nach Titeln wie „Prof.“ und „Dr.“ (mit ihren jeweiligen Varietäten) gesucht.5

Die zwölf häufigsten Expert:innen finden sich in Abb. 1.6 Hier fallen markante Unterschiede auf zwischen den häufigsten sieben (Homburg mit knapp 5.000 Erwähnungen) und dem achten Platz (Kekulé mit 631 Erwähnungen). Deshalb haben wir im Folgenden nur mit den sieben häufigsten Namen weitergearbeitet (Abb. 2).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass weitergeleitete Nachrichten genauso gezählt wurden wie solche die nur singulär vorkommen, weil wir so auch einen groben Indikator für die Verbreitung der Posts innerhalb Telegrams erhielten und wir das Teilen von Nachrichten zwischen den von uns als einschlägig rubrizierten Gruppen als Signal der Relevanzzuschreibung lesen: Wird ein Telegram-Post mit einem der Namen und Titel häufig geteilt, schlägt sich dies in unserer Methodik genauso nieder, als wären viele verschiedene Nachrichten mit demselben Namen und Titel geschrieben worden.7

Abb. 1: Die am häufigsten erwähnten Expert:innennamen in den ausgewählten Telegram-Gruppen.

Analyse

Abb. 2: Absolute Nennungen mit akademischen Titeln.

Zunächst einmal fällt auf, dass Christian Drosten der mit Abstand am häufigsten genannte Experte ist, gefolgt von Karl Lauterbach. Die Telegram-Gruppen befassen sich also häufiger mit Expert:innen, deren Position sie ablehnen, als mit solchen, die sie als Gewährsleute betrachten.

Unsere These der Korrelation fragwürdiger Expertise mit Titelnennung in den Telegram-Gruppen wird durch diese Daten unterstützt. Den größten Anteil von Nennungen mit Titeln haben die in wissenschaftsferne Milieus abgedrifteten Experten Wolfgang Wodarg mit 52% und Sucharit Bhakdi mit 54%. Der einst renommierte medizinische Mikrobiologe Bhakdi ist der einzige Professor unter den hier untersuchten, der häufiger mit Titel genannt wird als ohne. Zudem fällt auf, dass Stefan Homburg verhältnismäßig selten mit Titel genannt wird, was damit zusammenhängen kann, dass er der einzige in der Gruppe ohne medizinisch-mikrobiologische Expertise ist. Gleichzeitig wird Hendrik Streeck verhältnismäßig häufig mit Titel genannt, was ein Indikator dafür sein könnte, dass er mitunter als eine Art Grenzfigur betrachtet wird, die zwar weit von Anti-Experten wie Bhakdi und Wodarg entfernt ist, sich aber regelmäßig durch Außenseiterpositionen innerhalb des Mehrheitsdiskurses profiliert hat. Bemerkenswert ist überdies, dass die hier am häufigsten auf- und angegriffenen Expert:innen ausschließlich Männer sind.

Christian Drosten wird immer noch erstaunlich oft mit Titel genannt. Dabei ist auch der zeitliche Verlauf seiner Titelnennungen zu beachten (Abb. 3): Zu Beginn, d.h. in März und April 2020 wird Drosten fast immer mit Titel genannt, danach weniger. In den Posts zeigt sich tatsächlich eine Art Einführungsphase, in der die Bedeutung Drostens noch interpretativ flexibel und somit aktiv zuschreibungspflichtig war. Ein Blick in häufig geteilte Nachrichten bestätigt dies.

Anfang März 2020 finden sich Posts wie: “Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin, bestätigte, dass man 'nicht sagen kann', wie gefährlich das Virus tatsächlich ist.”8 Oder: “Auch Prof. Drosten äußerte sich zur Heinsberg-Studie: Nach WHO Studien Standart sterben nur 0,37 Prozent der Coronavirus Infizierten”.9 In beiden Fällen wird Drosten allerdings nicht nur mit Titel genannt und so gewissermaßen eingeführt, es sind auch stets Aussagen, die ihn scheinbar zum Gewährsmann der These machen, dass es sich bei SarsCoV2 womöglich um ein ungefährliches Virus handelt, also als jemand, dessen Expertise (noch) für die gruppeneigenen Deutungspraktiken genutzt werden kann.

Abb. 3: Zeitlicher Verlauf der Nennungen pro Tag.

Später, etwa im September 2020, finden sich die Titel häufig auch in ironischer Verwendung wie etwa: “‼️‼️ Anhörung mit "Dr." Drosten, Mittwoch 9.9.2020, um 13:00 Uhr ‼️‼️”.10
Ebenfalls auffällig häufig wird Drosten dann mit Titeln genannt, wenn seine wissenschaftliche Expertise ausdrücklich angegriffen wird. So etwa im Oktober 2020: “💥Prof. Drosten - Ein RKI-Scharlatan?💥 Dieses Video entlarvt Prof. Dr. Christian Drosten und enthält brisante Hintergrundinformationen zum wohl meist diskutierten Tierarzt der Republik. Es gibt wohl kaum einen Professor, bei dessen wissenschaftlichen Hintergrund es solch gravierende Ungereimtheiten”(…).11 Hier fungieren die Titel nicht so sehr als Ausweis von Expertise, sondern markieren die Position, aus der man ihn zu entheben meint. Die Bezeichnung als Tierarzt setzt ihn zudem in die Position eines Deplatzierten oder gar Inhumanen, der Menschen wie Tiere behandelt.

Fälle, in denen die Titel zur Degradierung genutzt werden, finden sich auch noch wesentlich später. Sie dienen mitunter als Signal der Stärke eines Gegners, den man selbst – oder jemand aus der eigenen Gruppe – zu besiegen glaubt: “💥 Boom 💥 Rechtsanwältin Beate Bahner zerlegt mit ihrem Fragenkatalog das Sachverständigengutachten von (Prof.Dr.) Drosten‼ Jetzt könnte es endlich eng werden.”12

Dass Drosten verhältnismäßig oft mit Titeln genannt wird, hängt mit diesen drei Gründen zusammen: Erstens gab es eine Etablierungsphase interpretativer Flexibilität, zweitens wird er danach ironisch tituliert und drittens werden die Titel genutzt, um ihn scheinbar kraftvoll zu degradieren.

Im Fall Karl Lauterbachs zeigt sich ein anderes Muster. Auch bei ihm gibt es ein Frühstadium, in dem er noch als Gewährsmann zitiert wird, hier als Gegner von Schulschließungen: “Die sogenannte Schulansteckung: Sieht die Wahrheit ganz anders aus? Die Schule in einigen Bundesländern hat wieder begonnen. Nun fragen sich Medien und Virologen, Epidemiologen oder Kritiker, wie sich die Ansteckungsgefahr entwickeln wird. Prof. Karl Lauterbach warnte schon vor Monaten, dass es auf keinen Fall eine neue Normalität an den Schulen geben dürfe.”13 Dies geschieht allerdings ausgesprochen selten. In anderen Fällen der Titelnennung finden sich wie bei Drosten auch Ironisierungen: “Das ist natürlich blöd. Wie sagte Prof. Dr Dr Dr Dr Lauterbach noch. Mit Impfen verdient man kein Geld. Gut, dass es Staatshilfen gibt”.14

Bei Lauterbach zeigt sich aber auch eine Besonderheit, die möglicherweise mit der für ihn spezifischen Kombination aus politischem Amt und wissenschaftlicher Expertise zusammenhängt. In einem Fall wird er etwa als unlauter Bevorteilter mit Titeln adressiert, er komme in der Sendung Markus Lanz zu häufig zu Wort: “vor Allem hat Prof. Dr.Dr. Lauterbach immer Rederecht und darf alle Anderen immer unterbrechen, wenn jeden 2.Tag gefühlt da ist, eigentlich können sie die Sendung in Lauterbach umbenennen …”.15 Gerade mit dem doppelten Doktortitel dient dies der Markierung einer von ‘normalen’ Menschen abgehobenen Elite, die Sonderrechte beanspruche.16

Diese Praktik des Elitarismusvorwurfs gegen den scheinbar im Politischen deplatzierten Professor durch Titelnennung ist nicht erst durch Telegram oder die Corona-Pandemie entstanden. Sie hat eine jüngere populäre Tradition in Deutschland, etwa im Wahlkampf: Der damalige Kanzler Gerhard Schröder nannte den Verfassungs- und Steuerjuristen Paul Kirchhof, der im “Schattenkabinett” Angela Merkels die Rolle des Finanzministers einnahm, im Bundestagswahlkampf 2005 folgenreich den “Professor aus Heidelberg”. Mit dem Elitarismusvorwurf verband Schröder zusätzlich auch noch einen Verdinglichungsvorwurf, wie etwa ein zeitgenössischer Spiegel-Artikel zeigt: “‘Wenn er sagt, die Rente könne behandelt werden wie die Kfz-Versicherung, dann ist das ein Menschenbild, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen’, rief Gerhard Schröder in den Saal. Dieser ‘Professor aus Heidelberg’ sei eine ‘merkwürdige Gestalt’, ein ‘Mann der Kälte’, der die Deutschen zu seinen ‘Versuchskaninchen’ machen wolle.”

Der Artikel resümiert, dass diese Beschädigung mit Titelnennung wirksam war: “Vier Wochen zuvor war er der angesehene Richter am Bundesverfassungsgericht a. D. gewesen, der Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, jetzt war er eine Lachnummer, die der Regierungschef persönlich angeprangert hatte. Aus seinem privaten Faxgerät quollen Hasstiraden, mit ‘allen Schmähungen, die es in der deutschen Sprache gibt’. In einer Lokalzeitung bezeichnete ihn jemand als ‘Triebtäter’. SPD-Mann Ludwig Stiegler dröhnte, das Kirchhof-Feuerwerk sei abgebrannt, jetzt sähen die Menschen ‘die stinkenden Hülsen’.”

Beim am dritthäufigsten genannten und relativ wie absolut am häufigsten titulierten Professor Sucharit Bhakdi ist die Lage grundsätzlich anders. In einem frühen Post aus dem März 2020 fällt etwa auf, wie aufwändig seine Expertise begründet wird: “Corona-Krise: Prof. Sucharit Bhakdi erklärt warum die Maßnahmen sinnlos und selbstzerstörerisch sind. COVID-19, der Spuk ist längst entzaubert, nur wissen Sie das nicht. Prof. Dr. Sucharit Bhakdi erklärt den Sachverhalt. Er leitete 22 Jahre lang das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und gehört zu den international angesehensten Infektiologen und meistzitierten Medizinforschern Deutschlands. Leben und Existenzen unserer Mitbürger werden aufs Spiel gesetzt, um eine nicht existente Gefahr abzuwehren. Die jetzt verhängten Maßnahmen sind eine Katastrophe für die gesamte Bevölkerung. Sie werden riesigen Schaden, im Gegenzug dafür aber keinen Nutzen bringen.”16

Auch Drosten wird zwar zu Beginn mit Titeln und dem von ihm geleiteten Institut genannt, aber ohne die quantitative (“meistzitierten”) und qualitative (“international angesehensten”) Bewertung. Titel und Position reichen insofern offenbar nicht aus, um die Außenseiterposition seines Arguments aufzuwiegen. Er wird durch diese Kombination scheinbar unbezweifelbarer Expertise und zweifelhafter Argumentation als eine Art Insider oder Kronzeuge inszeniert, der nicht von außen die wissenschaftlich etablierte Position angreift, sondern als jemand, der die Lage so gut beurteilen kann wie kaum ein anderer.

Auffällig häufig taucht Bhakdi zusammen mit Wolfgang Wodarg auf. Während Bhakdi als renommierter Professor für medizinische Mikrobiologie in den Telegram-Gruppen wie eine Art Anti-Drosten gehandelt wird, fungiert Wodarg sozusagen als Anti-Lauterbach und Anti-Wieler zugleich: Er war langjähriger Leiter des Flensburger Gesundheitsamts und später ebenfalls langjährig SPD-Bundestagsabgeordneter, der sich als promovierter Mediziner in gesundheitspolitischen, und zwar insbesondere epidemiologischen, Themen profiliert hat. Die Einstufung der H1N1-Ausbreitung (sogenannte Schweinegrippe) als Pandemie im Jahr 2009 kritisierte Wodarg prominent: Die Kriterien für die Einstufung als Pandemie habe die WHO herabgesetzt; dies mit dem Ergebnis, dass die Pharmaindustrie Impfstoff im Wert von 20 Mrd. US-Dollar verkauft habe.17

Häufig finden sich Kombinationen dieser Experten und ihrer Alternativen. In einem Post beschreibt etwa jemand, wie sie/er mit einem Juristen von IKEA telefoniert habe, um sich über Maskenpflicht in den Möbelhäusern und deren juristische Grundlagen zu erkundigen: “Er war sehr professionell und erklärte mir auch die Spätfolgen von Corona laut Drosten & Co 😂 . Ich erwiderte daraufhin , dass ich ja eher den Experten wie Bhakdi und Wodarg glaube ... Daraufhin ,nervöses Schnauben und stottern LOL”. 18

Im Kontext der Meldungen über Blutgerinnsel als Folge von Impfungen mit dem Impfstoff Vaxzevria der Firma Astra-Zeneca im März 2021 (Sinusvenenthrombosen) finden sich ähnliche Kombinationen aus eigenen und gegnerischen Experten – mit Aufwertung der eigenen Seite durch Titel: “‼️Prof. Sucharit Bhakdi hat uns gewarnt!‼️[...] Im Gegensatz zu Scharlatanen wie Karl Lauterbach ist Bhakdi ein echter Epidemiologe, der weiß, wovon er spricht.”19 Wir haben deshalb untersucht, wer in welchen Kombinationen am häufigsten vorkommt.

Abb. 4: Häufigkeiten von Namens-Kombinationen in Posts (unabhängig von Titelnennungen).

Am häufigsten werden Drosten und Wieler gemeinsam erwähnt, oft in Reihen, in denen Drosten in den RKI- und damit Regierungskontext gestellt wird. Drosten wird dadurch als nicht unabhängiger Wissenschaftler im Auftrag des Staates diskreditiert. ‚Blockbildungen‘ zwischen Drosten, Wieler und Lauterbach auf der einen (gegnerischen) Seite sowie Bhakdi und Wodarg auf der anderen (eigenen) sind regelmäßig zu beobachten (392 Posts). In solchen Posts mit Expertenkombinationen werden häufig auch Aussagen Drostens und anderer damit kommentiert, dass “seriöse Wissenschaftler” wie Bhakdi dies anders sähen.20 Die Blöcke dienen insofern einer Art Spiegelung oder Imitation etablierter Expertise; für mehrheitlich öffentlich etablierte Expert:innen bauen die Telegram-Fundamentalopponent:innen gewissermaßen ein Gegenmodell vermeintlicher Alternativen nach. Ende August 2020 wird etwa eine Petition verbreitet, die sich dafür einsetzt, dass die fünf – und außerdem Stefan Homburg – eine “wissenschaftliche Auseinandersetzung der Corona-Lage im Rahmen einer ARD-Sondersendung” führen.21

Titel und Anti-Titel

Auch wenn Gruppennamen wie “Flache Erde Deutschland ❤️” auf eine fundamentale Ablehnung wissenschaftlicher Expertise zu verweisen scheinen, so zeigen die Ergebnisse unserer explorativen Untersuchung, wie sehr wissenschaftliche Reputation trotz allem der Maßstab ist, mit dem die eigene ‘alternative’ Ansicht begründet wird.

Dabei zeigt sich eine große Vielfalt des Titelgebrauchs. Mitunter wurden Titel ironisch genutzt, als Symbol demokratiefernen Elitarismus oder als Marker eines vermeintlich besiegten Gegners im Kontext sozialer Degradierung. Dies ist keine Neuerfindung der Telegram-Gruppen, sondern hat selbst populäre Vorläufer, etwa in Gerhard Schröders “Professor aus Heidelberg”.

Relativ neu scheint allerdings die Praktik der Spiegelung, die rollengetreu ein ganzes Set von alternativen Expert:innen zu den Etablierten aufbauen. Die Popularität wissenschaftlicher Expertise geht mit einer Popularität wissenschaftlicher Anti-Expertise einher, und es stellt sich die Frage, ob es sich dabei um ein durchgängiges Muster öffentlicher Expertise unter den Bedingungen rezenter Transformationen des Populären handelt. Titel werden mit großem Beachtungsgewinn nicht nur für die Inszenierung von Expertise genutzt, sondern auch für Anti-Expertise, die die Expertise anderer Expert:innen wirksam abwerten kann. Für die Anti-Expertise werden die Titel genau genommen sogar am häufigsten genutzt.

Entscheidend scheint dabei aber nicht der Aufbau einer eigenen Expert:innengruppe zu sein, vielmehr handelt es sich um ein loses Kollektiv der Anti-Expertise, dessen vorderster Zweck die Abwertung etablierter Expert:innen ist. Diese Beobachtung lässt sich quantitativ dadurch stützen, dass die Telegram-Gruppen sich häufiger mit ‘gegnerischen’ Experten als mit ihren eigenen Alternativen befassen: Wichtiger als die Frage, ob die eigenen Beobachtungen und Geltungsansprüche richtig sind, scheint zu sein, ob die der Mehrheit falsch sind.

Die Popularität der Anti-Expertise hat auch systemische Gründe: Ein Angriff von Nicht-Wissenschaftler:innen auf Wissenschaft lässt sich sehr viel leichter abwehren als einer von anderen Wissenschaftler:innen, dies ist ein Hauptprinzip der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft: Wer nicht zum Feld gehört, kann es nur als Outsider kritisieren, und diese Kritik kann leicht auf das Outsidertum reduziert werden. Auch deshalb sind ausgerechnet Wissenschaftler:innen populäre Figuren der gesundheitspolitischen Fundamentalopposition.

Die populärsten Anti-Experten:innen der hier untersuchten Telegram-Szene sind aber nicht bloß ‘auch Experten’ mit irgendwelchen Titeln, sondern gewissermaßen Aussteiger aus medizinischer Wissenschaft und Gesundheitspolitik. Dadurch können sie leicht als ‘Alternative’ zu etablierten Expert:innen dargestellt werden und verfügen über große narrative Macht: Sie sind nicht nur diejenigen, die sich – etwa im Gespräch mit IKEA-Juristen – als ‘Alternative’ benennen lassen, sie bieten auch Gründe dafür, dass die Fundamentalkritiker:innen mit ihren teils irrationalen Argumenten in der Minderheit sind: Der wissenschaftliche Outsider innerhalb der Wissenschaft, der gegen den Widerstand der Kolleg:innen eine bahnbrechende Erkenntnis durchsetzt, ist selbst Teil eines etablierten Wissenschaftsnarrativs. Dass sie in der Minderheit sind, wäre gemäß dieser narrativen Logik nicht unüblich, sie sind ja einer größeren Sache auf der Spur, der die Mehrheit sich (noch) verweigert – wie so viele große Figuren der Wissenschaftsgeschichte.

Die populären Anti-Experten verfügen deshalb über mächtige narrative Ressourcen: Sie können durch ihren per Biografie und Titel bezeugten Insiderstatus glaubhaft machen, dass in Wissenschaft und ihrer Kooperation mit Politik grundsätzlich etwas nicht stimmt. Auf diese Weise kann dann jede wissenschaftlich anerkannte Erklärung abgewertet werden. Aussteigerfiguren wie Wodarg und Bhakdi entfalten dadurch im pandemischen Kontext ein narratives Potenzial, dessen Praktiken und Folgen erst noch zu untersuchen wären.

Johannes Paßmann ist Jun.-Professor für Geschichte und Theorie sozialer Medien und Plattformen am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Im SFB 1472 „Transformationen des Populären“ leitet er zusammen mit Anne Helmond (University of Amsterdam) das Projekt B03: „Historische Technografie des Online-Kommentars“

Martina Schories arbeitet als Informations- und Kommunikationsdesignerin für den SFB 1472. Vorher war sie als Datenjournalistin bei der Süddeutschen Zeitung tätig. Dort programmierte sie, um Geschichten zu finden und grafisch zu erklären. Ihre datenjournalistischen Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Reporterpreis (2020) und dem Nannen Preis (2019).

Luca Hammer arbeitet als wissenschaftlicher Programmierer für den SFB 1472. Als Social Media Analyst begleitet er seit vielen Jahren die Transformationen populärer Online-Kulturen und gehört in Deutschland zu den profiliertesten Kommentator:innen dieser Entwicklung.

Anmerkungen

1 Auf Tippfehler in den Gruppennachrichten weisen wir nicht gesondert hin.
2 Post vom 12. April 2020, 12:00 Uhr, Telegram-Gruppe u.a. “unzensiert”.
3 Der Unterschied zwischen Gruppe und Kanal ist, dass in Gruppen prinzipiell alle Teilnehmenden Nachrichten posten können und in Kanälen nur deren Betreiber:innen. Jenseits dieses explorativen Blogposts wäre eine stärkere Differenzierung zwischen beiden sinnvoll, da dabei teils sehr unterschiedliche Kommunikationspraktiken vorherrschen (Kommunikation in Gruppen ist etwa stärker ungeplant). Für den vorliegenden Text vernachlässigen wir diese Unterscheidung aber.
4 Damit soll kein Urteil unsererseits über deren Expertise verbunden sein. Ob es sich allerdings um als Expert:innen beanspruchte Personen handelt ist, genauso wie die Kategorisierung der Telegramgruppen, Ergebnis unseres Urteils als Beobachter:innen der Telegram-Gruppen und als Teilnehmende des medialen Pandemie-Diskurses. Ausgelassen haben wir dabei etwa internationale Expert:innen wie Anthony Fauci, der auch häufig adressiert wird, für die vorliegende Exploration aber noch weitere Vergleichsdimension nötig gemacht hätte.
5 Gezählt wurde dabei, wenn ein Titel unmittelbar vor dem Expert:innennamen steht – oder mit einem Wort Entfernung (sodass auch die Fälle berücksichtigt werden, in denen auch Vornamen erwähnt werden). Ob mehrere Titel (z.B. „Prof. Dr.“) oder nur einer (z.B. „Prof.“) genannt werden, macht keinen Unterschied.
6 Für die Begrenzung auf die zwölf Häufigsten gab es zwei Gründe: Zum Einen handelt es sich um eine sehr rechenintensive Abfrage, die wir deshalb auf eine ‚Top-Liste‘ begrenzen wollten, zugleich wollten wir Sandra Ciesek noch im Sample haben, um sie mit Christian Drosten vergleichen zu können, mit dem sie im Wechsel den NDR-Podcast Das Coronavirus-Update produziert.
7 Zudem ist zu beachten, dass Beitreiber:innen der Kanäle unterbinden können, dass Nachrichten weitergeleitet werden. Von der Teilungsmöglichkeit wird in den ausgewerteten Gruppen und Kanälen intensiv Gebrauch gemacht, allerdings sind eben auch Kanäle dabei, in denen nicht geteilt wird.
8 Nachricht vom 2. März 2020, Gruppe “cueNET17 | Wir sind die News 🇩🇪”.
9 Nachricht vom 12. April 2020, mehrere Gruppen u.a. “🦠 Coronavirus COVID-19 Info Corona German / Deutsch”.
10 Nachricht vom 9. September 2020, mehrere Gruppen, u.a. “Eva Herman Fanchat + Corona-Krise”.
11 Nachricht vom 25. Oktober 2020, mehrere Gruppen, u.a. “Freie Medien”.
12 Nachricht vom 7. Mai 2021, mehrere Gruppen, u.a. “Köln ist aktiv” und “Identitäre Bewegung Europa”.
13 Nachricht vom 17. August 2020, Gruppe ”Corona Virus Informationen Diskussion”.
14 Nachricht vom 24. Mai 2021, Gruppe “DCs Digitale Patrioten”.
15 Nachricht vom 8. Juli 2020, Gruppe ”Direkte Demokratie in NRW”.
16 Post vom 21. März 2020, Gruppen “Gesundheitsecke” und “Flache Erde Deutschland ❤️”.
17 taz.de/!5148868
18 Post vom 22. Juli 2020, Gruppe “QUERDENKEN (441 - OLDENBURG) | Diskussion & Austausch - Wir für das Grundgesetz”
19 Post vom 10. März 2021, Gruppe “Freie Medien”
20 Z.B. “(...) Drosten mag es gar nicht, wenn „seriöse“ Wissenschaftler verballhornt werden. Denn „das kostest diesen Winter noch tausenden das Leben“. >>> #SchwereSchuld <<< Puh, da hab’ ich ja noch mal Glück gehabt, dass ich seriöse Wissenschaftler (z.B. Prof. Bhakdi, Prof. Hockertz …) nicht veralbere.”, Post vom 6. Januar 2021, Gruppe “FREIHEITS-CHAT”.
21 Post vom 31. August 2020, Gruppe “FREIHEITS-CHAT”.

SUGGESTED CITATION: Passmann, Johannes; Schories, Martina; Hammer Luca: Expertise und ihre Titel, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/expertise-und-ihre-titel/], 14.02.2022

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20220214-0830

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