New Jour­na­lism oder Popjour­na­lis­mus? (2022)

Ein aktueller Sonderband der Zeitschrift Text + Kritik heißt Literarischer Journalismus. Der Untertitel zur Einleitung lautet Deutschsprachiger New Journalism seit den 1970er Jahren. Beides sind begrifflich kondensierte Aufwertungsbemühungen: ‚Neu‘ – das Schlagwort der Moderne, die Absetzung von der (als einengend gedachten) Tradition und ihren regelhaften Vorgaben; ‚Literatur‘ – nach der Durchsetzung von Roman und Realismus längst kein negativ klingender Ausdruck mehr (der einen Unterschied zur erhabenen ‚Dichtung‘ markieren soll), sondern (fast) auf der Wertungshöhe von ‚Kunst‘.

Der Begriff „New Journalism“ geht zurück auf Debatten der 1960er Jahre. Ihren dauerhaftesten Niederschlag haben sie 1973 im Sammelband The New Journalism gefunden (herausgegeben von Tom Wolfe und E. W. Johnson). In der Einleitung zu diesem Buch entwirft Wolfe ausführlich ein Programm solch eines ‚neuen Journalismus‘. Damit hat er sich – wie man u.a. am aktuellen Band von Text + Kritik sehen kann – sogar international durchgesetzt.

An Alternativen mangelte es jedoch nicht. Wolfe selbst wurde etwa recht häufig als ‚Popjournalist‘ bezeichnet. Er schätzte diesen Begriff allerdings überhaupt nicht, wie man aus Interviews weiß. Die Einordnung als „pop journalist“ missfiel ihm, weil er darin eine Abwertung erkannte. Da „pop“ stark mit „trivial“ gleichgesetzt werde, zeige „pop journalist“ an, dass man ihn für einen wenig ernsthaften Autor halte, so seine Begründung 1970 (Tom Wolfe: Pop Writer of the Period – Tom Wolfe Talks to Michael Dean [Interview in: The Listener, 19.02.1970], in: Dorothy M. Scura (Hg.): Conversations with Tom Wolfe, Jackson/London 1990, S. 24-29, hier S. 24.).

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Eine Umwertung versuchte er gleichwohl. Bescheinigt wurde ihm oft (in den 1960er Jahren zumeist negativ), dass sein Stil effekthascherisch, gaghaft und oberflächlich sei. Wolfe selbst deutet das zum Vorzug seines Schreibens um. Dem journalistischen „understatement“, der Pflege einer „calm, cultivated and, in fact, genteel voice“ erteilt er eine offenkundig demokratisch motivierte Absage. Mit Hilfe von „interjections, shouts, nonsense words“ sowie dem „lavish use of dots, dashes, exclamation points“ möchte er gegen solchen ‚Klassendünkel‘ angehen, wie er in besagter Einleitung zu New Journalism ausführt.

Dennoch liegt die Hauptlinie seiner (Selbst-)Verteidigung woanders. Sie besteht in der Berufung auf den realistischen Roman. Dieser sei von den zeitgenössischen modernen Autoren und Kritikern aufgegeben worden, deshalb ergebe sich für Journalisten umso mehr die Chance, einige seiner wichtigsten Darstellungstechniken zu benutzen.

Wenig bekannt ist, dass Wolfe diese Argumentation nicht erst 1973 in seiner Einleitung entfaltet hat, sondern bereits Mitte der 1960er Jahre in einem Leserbrief an das englische Magazin Encounter (November 1966, S. 90). Er reagierte mit diesem Brief auf einen Artikel von Richard Hoggart, den Begründer der Birminghamer Cultural Studies.

Hoggart hatte in seinem längeren Beitrag The Dance of the Long-Legged Fly die Haltung Wolfes scharf kritisiert: Sie gehe auf Kosten der Genauigkeit und Akkuratesse; der Stil sei Wolfe leider wichtiger als eine verantwortungsbewusste Botschaft, es bleibe bei einem raffinierten „Tanz“ auf der glitzernden Oberfläche, der nie zur Sache vorstoße (Richard Hoggart: The Dance of the Long-Legged Fly. On Tom Wolfe’s Poise, in: Encounter, April 1966, S. 63-71).

Wolfe geht auf die zentralen Argumente und Wertungen Hoggarts in seiner Antwort per Leserbrief gar nicht oder kaum ein. Er ist vielmehr bemüht, Legitimität und Anerkennung zu erlangen, indem er sich auf die ‚realistische Kunst‘ beruft, auf eine journalistische, ‚objektivere‘ Verwendung von „literary techniques that, heretofore, have been confined largely to fiction – scenes, extended dialogue, shifting points of view, dramatic climaxes – but all of it is quite real.“ Nicht wenige von „Americaʼs best magazine writers“ würden so vorgehen. Für diese „besten“ Journalisten, die sich zudem durch ausführliche Recherchen auszeichneten, reserviert Wolfe in seinem Leserbrief den Titel „the New Journalists“.

Da Wolfe sich zumindest mit seinem Begriff und seinen ‚Literatur‘-Suggestionen durchsetzen konnte, stehen bei Diskussionen um ‚New Journalism‘ Fragen nach ‚Wahrheit‘, ‚Objektivität‘ und ‚Kunst‘ bis heute im Vordergrund. Dies ist insofern verwunderlich, als Wolfes Hinweise zumindest im deutschsprachigen Raum seit den journalistischen und theoretischen Überlegungen zur Reportage in den 1920er Jahren keineswegs als Neuerung zu bezeichnen sind.

Wahrscheinlich wäre es erkenntnisfördernder gewesen, wenn versucht worden wäre, das mehr oder minder Neue unter dem Titel ‚Popjournalismus‘ zu erfassen. Angesichts des sich 1966 gut abzeichnenden künstlerischen Nimbus der Pop-Art hätte man dabei durchaus darauf spekulieren dürfen, dass sich auch für einen ‚Popjournalismus‘ Anhänger im Feuilleton und in der Akademie finden lassen. Die Kritik an journalistischer ‚Oberflächlichkeit‘ war aber offenbar im geschichtlichen Moment zu massiv, um diesen Weg zu beschreiten.

So kommt es, dass bis heute mit ‚Popjournalismus‘ nur ‚Popmusikjournalismus‘ verbunden wird (und manchmal im Deutschen mit Leuten, die ‚sehr subjektiv‘ schrieben oder nicht ‚wahrheitsgemäß‘ berichteten). Die Frage nach der Bedeutung eines Stils, der mit „interjections, shouts, nonsense words“, vielen „dots, dashes, exclamation points“ und anderen Mitteln arbeitet, die einer „calm, cultivated and, in fact, genteel voice“ widerstreben, bleibt darum bislang ohne eine größere neue Antwort.