Tagungs­be­richt Vulgär – gemein – nied­rig. Erkun­dun­gen im früh­neu­zeit­li­chen Begriffs­feld

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31.01.22
  • Julian Scherer

An der Universität Siegen fand am 22. und 23. Juli 2021 im Rahmen des SFB 1472 ‚Transformationen des Populären‘ ein Workshop des Teilprojektes C03 ‚Das Populäre der Anderen. Das Vulgäre zwischen Normativität und Zuschreibung‘ mit dem Titel ‚Vulgär – gemein – niedrig. Erkundungen im frühneuzeitlichen Begriffsfeld‘ statt. Ziel des Workshops war die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion des entsprechenden frühneuzeitlichen Feldes.
Michael Multhammer (Siegen) skizzierte einführend unter dem Titel „Vulgarität zwischen normativer Setzung und wertender Attribuierung“ die grundsätzliche Zielsetzung des begriffsgeschichtlich orientierten Workshops. Im Zentrum des Interesses stünden der Umgang und die frühneuzeitliche Konzeptualisierung dessen, was man in moderner Diktion als das ‚Vulgäre‘ bezeichnet. Zentral sei dabei die Annahme, dass die Wahrnehmung und Zuschreibung einer Sache oder Person als ‚vulgär’ sowohl eine ästhetische als auch eine moralische Wertung respektive Wertigkeit kommuniziert.

Im Sinne einer grundsätzlichen Kontextualisierung und Perspektivierung der für den Workshop zentralen Fragehorizonte präsentierte Viktoria Ehrmann (Siegen) im Anschluss zentrale Gedanken des SFB ‚Transformationen des Populären‘. Leitend sei die Annahme, dass es beim Populären nicht um Qualitäts- oder Originalitätsansprüche, sondern zuallererst um messbaren Erfolg, der sich in entsprechenden Rankings niederschlägt, gehe. Dem Populären entgegengesetzt werde das Nicht-Populäre, das stets Gefahr läuft, in der Bedeutungslosigkeit unterzugehen. Diese Unterscheidung – so die Kernthese des SFBs – gewinne im Zuge der bereits um 1800 einsetzenden Transformationen des Populären im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung und trete der bis dahin wirkmächtigen Leitdifferenz von high culture vs. low culture gegenüber.

Im Rahmen des gemeinsam mit Michael Multhammer bearbeiteten Teilprojektes werden im frühneuzeitlichen Kontext einerseits in diachroner Perspektive normative Einhegungen des ‚Gemeinen‘ und seiner Derivate exemplarisch untersucht, andererseits solle in synchroner Hinsicht die Ausdifferenzierung der Begriffe ‚populär‘ und ‚vulgär‘ um 1800 erschlossen werden. Übergeordnetes Ziel sei es letztlich, wesentliche Parameter der historischen Tiefendimension des Populären aufzuzeigen.

Abschließend stellte Ehrmann die Ergebnisse einer auf die Begriffe des ‚Niedrigen‘, und ‚Gemeinen‘ sowie des ‚Populären‘ und ‚Vulgären‘ gerichteten Recherche in ausgewählten deutschsprachigen Wörterbüchern der vergangenen drei Jahrhunderte überblicksartig vor. Hierbei habe sich gezeigt, dass das ‚Gemeine‘ in soziologischer Hinsicht – ähnlich wie das ‚Niedrige‘ – zur Beschreibung der untersten Gesellschaftsteile diene, während es ästhetisch als Gegenbegriff zum ‚Edlen und Feinen‘ fungiere. Darüber hinaus finde sich mehrfach eine zum ‚Vulgären‘ synonyme Verwendungsweise. Deutlich herausgestellt werden konnte überdies, dass der Begriff des ‚Populären‘ im Laufe der Zeit seinen pejorativen Charakter mehr und mehr verloren hat und gerade durch seine Verbindung zur Kunst eine zunehmende Differenzierung erfahre.

Jörn Steigerwald (Paderborn) befasste sich unter dem Titel ‚Aretinos Affe‘ mit der Verarbeitung des Perversen, Obszönen und Vulgären in ausgewählten Werken der italienischen und französischen Literatur der Frühen Neuzeit. Gerade dann, wenn es eine deutliche Diskrepanz zwischen aptum und res gebe, gelte es, in Anerkennung dieser Differenz die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Pietro Aretino bediene sich unter anderem der äffischen Nachahmung, um sich über den zeitgenössischen Adel lustig zu machen. Die Bestrebungen einzelner Aristokraten, hier explizit Gegenstand des Spottes zu werden, seien letztlich Ausweis der enormen Popularität des Werkes. Somit sei gerade eine Nicht-Beachtung durch Aretino als Indiz für die eigene Bedeutungslosigkeit zu werten.

Michael Multhammer untersuchte anschließend „Verortungen des ‚Gemeinen‘ und ‚Grobianischen‘ in Poetiken und Paratexten“ und richtete dabei die Aufmerksamkeit zunächst auf die Vorrede, die Friedrich von Logau seinen ‚Sinngedichten‘ vorangestellt hat. Indem sie die Spielregeln des Textes erläutere, schaffe sie in für die Frühe Neuzeit typischer Weise die notwendige paratextuelle, poetologische Absicherung der folgenden Unflätigkeiten und moralischen Digressionen, kurz: des Gemeinen. Die Begleittexte verweisen darüber hinaus explizit auf eine lateinkundige Rezipientengruppe, sodass die Bruchlinie hier nicht etwa zwischen volkssprachlicher und lateinischer Dichtung, sondern zwischen den lateinkundigen Gelehrten und dem in dieser Hinsicht unkundigen Pöbel verlaufe. Multhammer konnte zudem zeigen, dass sich die bei von Logau herausgestellten Aspekte in noch augenfälligerer Weise an den paratextuellen Elementen der von Caspar Scheidt im Jahr 1551 vorgelegten und ungemein erfolgreichen deutschen Fassung des ‚Grobianus‘ wiederfinden. Obschon bereits das Titelblatt dem notwendig lateinkundigen Leser zwar die eindeutige Lektüreanleitung mitgibt, die Anweisungen sowie die ihnen vielfach zur Seite gestellten Marginalien zu lesen und entsprechend gegenteilig zu handeln, konnte deutlich herausgestellt werden, dass der satirische Charakter hier komplexer als bei von Logau und zudem bisweilen ambivalent ist.

Ein Vortrag von Julia Amslinger (Göttingen) zu Sigmund von Birkens Poetik musste leider krankheitsbedingt entfallen.

In ihrem Vortrag ‚Lieber vulgär als populär?‘ befasste sich Viktoria Ehrmann ausgehend von Johann Christoph Greilings Theorie der Popularität mit der für das Teilprojekt wesentlichen These, dass das Vulgäre vor allem im Rahmen der zunehmenden Differenzierung von Hoch- und Populärkultur um 1800 zum negativen Komplement des Populären werde. Greiling setze dieses in enge Verbindung zum Schönen und ebne somit den Weg dafür, Popularität jenseits sozialer Zuschreibungen vor allem auch als ästhetisches Konzept zu denken. Er differenziere zwar zwischen dem ‚gemeinen‘ und dem ‚gelehrten‘ Verstand, möchte dies jedoch ausdrücklich nicht als Kategorisierung entlang sozialer oder gar ständisch begründeter Schichten verstanden wissen. Ebenso unterscheide seine Theorie auf Grundlage ästhetischer Erwägungen zwischen verschiedenen Graden der Popularität. Der höheren Popularität komme in geradezu aufklärerischer Weise die Aufgabe zu, zwischen gemeinem und gelehrtem Denken zu vermitteln. Die niedere Popularität scheine hingegen in ihrem dem Ästhetischen gerade entgegengesetzten Charakter auf das – von Greiling jedoch nicht explizit als solches bezeichnete – ‚Vulgäre‘ hinzudeuten, das somit als notwendige Ordnungs- und Beschreibungskategorie die durch die Aufwertung des Populären entstandene Leerstelle füllt

Nicolas Detering (Bern) untersuchte ‚Die Wendung „ins gemein“ in Chroniken der Frühen Neuzeit‘, der er sich ausgehend von begriffsgeschichtlichen und etymologischen Überlegungen zum ‚Gemeinen‘ und vor allem auch dem ‚gemeinen Mann‘ näherte. Dieser bezeichne vor allem im Kontext der Reformation und der sich anschließenden Religionskriege jede Person, die einer Herrschaft untersteht und damit auch gegen sie aufbegehren kann. Zutage trete hier die Polarität zwischen der gesichtslosen, aber ernst zu nehmenden Menge und der Herrschaft, was den ‚gemeinen Mann‘ hier mehr zu einer kommunikativen denn zu einer soziologischen Größe mache. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen richtete Detering den Fokus auf das im 17. Jahrhundert in 21 Bänden erschienene ‚Theatrum Europäum‘. Auf Grundlage ausgewählter Textstellen aus dem vierten Band der Chronik konnte eindrücklich gezeigt werden, dass die Wendung „ins gemein“ hier vor allem dann Verwendung finde, wenn es gilt, nicht nur das objektiv gesicherte Ergebnis eines historischen Prozesses, sondern im jeweiligen Zusammenhang bedeutsame Spekulationen und Gerüchte, wie sie vom ‚gemeinen Mann‘ kolportiert werden, darzulegen. Dergestalt reflektieren die Autoren die mediale Vermittlung der Nachrichten und zeichnen gleichsam das Bild einer kommunikativ wirksamen Öffentlichkeit.

Die in diesem Workshops angestellten Überlegungen werden im Rahmen einer Tagung des Teilprojektes C03, die 2023 stattfinden wird, fortgesetzt und vertieft werden.

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