Bericht zum Workshop ‚Präfigurationen von Pop, Popularität und Populismen‘
Am 2. Dezember 2021 fand im Rahmen des SFB 1472 „Transformationen des Populären“ an der Universität Siegen ein Workshop mit dem Titel „Präfigurationen von Pop, Popularität und Populismen“ statt. Ziel dieses Workshops war es, den im SFB-Kontext zentralen Begriff der ‚Präfiguration‘ erneut mit ausgewählten Expert:innen auswärtiger Universitäten nah am Untersuchungsmaterial der involvierten Teilprojekte zu diskutieren und zu problematisieren. Insbesondere wurde die Plausibilität weiterer Transformationsstufen – jenseits von 1950 und 2000 – gemeinsam mit Robert Krause (Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Freiburg), Ruth Albrecht (Evangelische Theologie, Hamburg) und Helmut Hess (Kunstgeschichte, München) thematisiert. In den Blick gerieten dabei diejenigen Momente einer historischen Entwicklung der ‚Transformationen des Populären‘, die maßgeblich zur Bedeutung und Selbstreflexivität von Beachtungserfolgen und damit einhergehender Beachtungsmessung als zentralen Phänomenen dieser Transformation beitrugen.
Im Rahmen der historischen Fokussierung des SFB, die sich vor allem auf die Zeit um 1950 und um 2000 als maßgebliche Schwellenzeiten konzentriert, richtet sich das Augenmerk auch auf sukzessive Ausprägungen von Pop, Popularisierung und Populismen seit der Frühen Neuzeit und den Diskurs über das Populäre seit der Sattelzeit um 1800. Diese Phase wird als Präfiguration aller drei Spielarten des Populären verstanden und exemplarisch untersucht. Der SFB versteht Präfigurationen nicht im Sinne früher Indizien einer teleonomen historischen Selbstverwirklichung der gegenwärtigen Popularitätssemantik. Er versteht sie vielmehr als historische Fälle, die in der Perspektive der gegenwärtigen Popularitätssemantik sichtbar werden, die wiederum in der Perspektive der historischen Fälle plastischer verstanden und rekonstruiert werden können, insofern auch die Differenzen zu den historischen Fällen sichtbar und besondere Spezifika und Unwahrscheinlichkeiten der gegenwärtigen Semantik kenntlich werden. Letztlich geht es darum, Elemente der historischen Genese der Bedingungen der Möglichkeit einer Entgrenzung des Populären zu kartieren.
Anhand dreier Beispiele aus den Bereichen Germanistik sowie Kirchen- und Kunstgeschichte wurden in diesem Workshop Phänomene der Präfiguration von Pop, Popularität und Populismen diskutiert und dabei zugleich der Begriff ‚Präfiguration‘ selbst auf den Prüfstand gestellt. Neben der Tradition der typologischen Bibelexegese des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verbindet man den Begriff häufig mit einer genealogisch-teleologischen Heuristik, die in unserem Projekt gerade nicht intendiert ist. In der Rhetorik meint ‚Figuration‘ den prozessualen Charakter kommunikativen Geschehens – und ‚Präfigurationen‘ könnten dann als ‚Prä-Phänomene‘ von Pop, Popularität und Populismen des 20. Jahrhunderts in praxeologisch-dynamisch greifbaren historischen Dimensionen betrachtet werden. Der statische Begriff einer Vorgeschichte könnte dergestalt vermieden werden, wenngleich ein teleologisches Moment weiterhin mitgedacht würde.
Zur Einleitung des Workshops stellten NIELS PENKE und MICHAEL MULTHAMMER einige Befunde aus der bisherigen Forschung vor. Wirft man einen Blick auf die historische Semantik seit der Frühen Neuzeit, zeigt sich, dass Begriffe wie ‚niedrig‘, ‚gemein‘, ‚vulgär‘ und eben auch ‚populär‘ spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer neuen Dynamik hinsichtlich feiner Bedeutungsverschiebungen unterworfen sind. Was zuvor weitestgehend statisch und im Gebrauch synonym war, wird im Durchgang durch die neu entstehende Disziplin der Ästhetik, die sich alle diese Begriffe aneignet, dynamisiert und vor allem in der Begriffsverwendung deutlich diffuser. Diese Bandbreite nimmt noch einmal zu, wenn man bedenkt, dass die Begrifflichkeiten in unterschiedlichen Diskursen, Disziplinen und Diskussionszusammenhängen je unterschiedlich (positiv oder negativ besetzt) gebraucht werden – die für den SFB zentrale Leidifferenz von high/low in der Bewertung kultureller Artefakte wird in dieser Ausdifferenzierung zunehmend greifbar. In den Jahrzehnten um 1800 – so der Input für den Workshop – kann man eine Phase der Pluralisierung von Figurationen des Populären ausmachen, die im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestehen blieb und erst um 1950 einen erneuten substanziellen Umschlag in der Dominantsetzung quantitativer Erfassung von Popularität und deren Ausstellung etwa in Charts und Rankings erfuhr.
Anschließend stellte ANNA SEIDEL erste Erkenntnisse ihrer Forschungen zu den illustrierten Magazinen der 1920er-Jahre vor, die sie als „Pop-Zeitschriften avant la lettre“ diskutierte. Den Fokus legte sie auf die in Berlin produzierten Ullstein-Publikationen Die Dame und Uhu, die beide sowohl verlagsseitig als auch zeitgenössisch-diskursiv als populäre Formate gehandelt wurden. Die Magazine verhandelten inhaltlich etwa Modetrends und Starkult mit den dazugehörigen Formaten, die sich im weiteren Verlauf als ‚Pop-Formate‘ etablieren (Homestory, ‚Red Carpet Shots‘) und trugen somit auch als Popularisierungsagenten maßgeblich dazu bei, dass bestimmte Themen und Akteur:innen überhaupt bei vielen Beachtung finden konnten.
Picasso auf dem Innencover von Die Dame, H. 10, 1. Februarheft 1926, 53. Jg.
Abgesehen von zu identifizierenden Pop-Ästhetiken auf visueller, diskursiver und auch poetologischer Ebene, ließ sich zudem schon anhand von Auflagenzahl und Veröffentlichungsturnus eine gewisse Popularität belegen. Dabei ist in den Magazinen durchaus ein Selbst-Bewusstsein für diese Popularität ablesbar, das sich in Momenten als Popularisierung zweiter Ordnung beschreiben ließe, wie es etwa MAREN LICKHARDT an anderer Stelle herausarbeitet (vgl. [in Vorbereitung] Maren Lickhardt: Was ist Popularität? Zur Bewertung der großen Zahl in Unterhaltungsmagazinen der Weimarer Republik). Auch lassen sich beispielsweise metaleptische Verhandlungen in Coverabbildungen und Karikaturen finden, in denen das eigene Magazin visuell repräsentiert und als beliebte Lektüre ausgestellt wurde. Die Verschränkung der Leser:innenschaft in der Ansprache mit dem Magazin-Titel (‚die Damen von Welt‘), die sich auch in der reziproken Bezugnahme redaktioneller und werbender Inhalte aufeinander zeigen ließ, trug zudem zur Herausbildung einer Stilgemeinschaft bei, wie wir sie später im Pop ab 1950 kennenlernen.
Wie die Filmsterne in Hollywood wohnen, in Die Dame, H. 10, 1. Februarheft 1926, 53. Jg., S. 12 und 13.
Der Kunsthistoriker HELMUT HESS stellte den frühen Bildrechtehandel und Copyright-Fragen vor 1900 in den Mittelpunkt seines Impulsreferats. Die juristische Kodifizierung des Urheber- und Verlagsrechtes war Voraussetzung für die Möglichkeit einer internationalen Vermarktung von Kunst(produkten) und damit im übertragenen Sinn auch eine notwendige Bedingung für einen Wandel in der kunsthistorischen Wissensvermittlung. Reproduktionen nach Artefakten der Hochkunst werden nun populär und zum Medium ästhetischer Bildung.
Franz Stuck: Die Sünde. Fotografie des Kunstverlags Franz Hanfstaengl, 1893.
Die zu beobachtenden Transformationsprozesse hängen von Innovationsschüben im Druckgewerbe ab und verlangen nach einer gesetzlich bindenden Basis, damit sich der kommerzielle und industrialisierte Kunstreproduktionshandel überhaupt etablieren und in der Folge auch florieren kann. Der Beitrag stellte zwei Prozesse von 1887 in den Mittelpunkt, in denen „unbefugter Nachdruck“ verhandelt wurde, und veranschaulichte mit den Beispielen schlaglichtartig die Bedeutung, aber auch die Problematik der popularisierenden Distribution von Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Impuls gab Anlass dazu, Fragen nach den Akteuren der Verlagsbranche dieser Zeit zu stellen, die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der Interessensgruppen zu diskutieren und die Popularisierung, Verbreitung und ‚Verwertung‘ von Kunst als Problem zu konturieren und zu aktualisieren.
Verlagsschein vom 24.10.1893: Franz Stuck, Die Sünde, Franz Hanfstaengl Kunst-verlag.
[München, 24. Oct. [18]93. An Franz Hanfstaengl Kunstverlag! Von beifolgendem Bild „Die Sünde“ übergebe ich Ihnen das Recht für die Photographie gegen Tantiemen. Ich bitte dasselbe möglichst groß aufzunehmen und mir so bald als möglich wieder zuzuschicken. Hochachtungsvoll Franz Stuck."]
Abschließend stellten STEFANIE SIEDEK-STRUNK und VERONIKA ALBRECHT-BIRKNER einen Beitrag zum Thema „Medienkampagnen gegen endzeitliche Deutungen von Naturkatastrophen durch Johann Heinrich Jung-Stilling im frühen 19. Jahrhundert“ zur Diskussion. Analysiert wurde hier ein Konflikt um Äußerungen des Arztes, Wirtschaftswissenschaftlers und Laientheologen Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) im Zusammenhang mit dem Bergsturz von Goldau im Jahre 1806, der in den frühneuzeitlichen Periodika der Schweiz und Deutschlands öffentlichkeitswirksam ausgetragen wurde. Inhaltlich ging es bei diesem Konflikt um religiöse Deutungshoheiten. Jung-Stilling – im frühen 19. Jahrhundert Vorreiter der Etablierung einer kirchlichen Presse – nahm den Mediendiskurs gezielt in Anspruch, um die Ereignisse für seine populartheologischen Anliegen ‚auszuschlachten‘.
Johann Heinrich Jung-Stilling: Vertheidigung gegen die schweren Vorwürfe einiger Journalisten, Nürnberg 1807, Titelblatt.
Der etablierten Presse ging es darum, die Diskurshoheit zurückzugewinnen, und zwar durch eine Strategie der Resistenz gegenüber Jung-Stillings Ansichten als einer vermeintlich vorübergehenden ‚Modeerscheinung‘. Somit ist der Konflikt als Beispiel für die Herausforderung etablierter Bewertungsregime auf einer zwischen High- und Low-Culture angesiedelten weiteren Ebene – Zeitungsverlegern und Journalisten – durch laientheologische Publikationen um 1800 zu verstehen, die als Populismus interpretierbar ist und den Rahmen einer Popularisierung erster Ordnung im Sinne unerwünschter Popularität verlässt.
Johann Heinrich Jung-Stilling: Der christliche Menschenfreund in Erzählungen für Bürger und Bauern, H. 4, Nürnberg 1807, Titelblatt.