„Pop und Passion passt erstaunlich gut“, urteilte das christliche Medienmagazin „pro“, während auf Twitter unter #DiePassion kurzzeitig Fremdscham bekundet und eine neue Welle an Kirchenaustritten prophezeit wurde. Diese Reaktionen auf die moderne Inszenie-rung der Passionsgeschichte durch den Privatsender RTL stellen einen interessanten Unter-suchungsgegenstand für die Forschung zu „Transformationen des Populären“ dar. Denn die unterschiedlichen Reaktionen von Kirchenvertreter:innen und aus dem Publikum sind auffällig.
Am 13. April 2022 zeigte RTL unter dem Titel Die Passion – Das Live-Musik-Event den Leidensweg Jesu in der Essener Innenstadt, inszeniert mit deutschen Pop-Songs, gesungen von Sänger:innen und Schauspieler:innen wie Ella Endlich, Alexander Klaws, Mark Keller und Henning Baum. Von dort wurde das Live-Event, moderiert von Thomas Gottschalk, ins Fernsehen übertragen, wo die Zuschauerinnen abwechselnd eingespielte Video-Clips dieser modernen Version der biblischen Erzählung, Live-Schaltungen zum Leucht-Kreuz, welches von religiös-interessierten Menschen unter Begleitung von RTL-Moderatorin Annett Möller durch die Stadt getragen wurde, und das Bühnenprogramm auf dem Essener Burgplatz sahen. Es waren über zwanzig deutsche Prominente beteiligt, die unter anderem Jesus und seine Jünger darstellten und Lieder wie „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel und „Bauch und Kopf“ von Mark Forster sangen. Die Inszenierung der Passion durch RTL reiht sich ein in Säkularisierungen biblischer Stoffe, wie z. B. der Apokalypse, und kirchlicher Traditionen, wie z. B. Wallfahrten. Gemeinsam ist diesen Adaptionen, dass sie die jeweils theologisch relevanten, heilsgeschichtlichen Aspekte tilgen.
Inszenierungen (vollständiger) biblischer Erzählungen haben eine lange Tradition, die im Mittelalter entstand, in der Frühen Neuzeit besonders populär war und die bis heute „in ihrem ursprünglichen religiös-pädagogischen, frömmigkeits-, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Kontext steht […]“. Als verbindendes Element zwischen klassischen Passionsspielen und dem TV-Event kann die Ausrichtung auf die religiöse Bildung der breiten Masse bezeichnet werden. Abgeleitet von einem niederländischen Vorbild, sollte Die Passion von RTL durch Popularisierung der Inhalte der Passionsgeschichte zugleich unterhalten und bilden, was dem Privatsender der Quote von fast 3 Millionen Zuschauer:innen nach zu urteilen auch gelang.
Es ist eine interessante Frage, ob man die christliche Kirche in der Bundesrepublik eher als Phänomen der etablierten Hochkultur beschreiben sollte. Denn Kirche, Passionsspiele und überhaupt kirchliche Inhalte adressieren zunächst einmal die Breite der Bevölkerung und sind damit (theoretisch) populär. Tatsächlich ist die westliche Kultur stark vom Christentum geprägt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Kirchenaustritte und Unkenntnis über biblische Erzählungen und christliche Traditionen gegenwärtig deutlich zunehmen. Darauf reagierte das TV-Event und vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag die Kirche der high culture zugeordnet.
Welche öffentliche Beachtung die Fernseh-Passionsspiele erzielten, lässt sich in den sozialen Netzwerken feststellen. Dabei sind zwei Tendenzen auszumachen: Kirchenvertreter:innen unterstützen diese Art der Rezeption, Teile der Öffentlichkeit kritisieren sie. Kirchen und Hochkultur reagierten also nicht mit Resistenz auf die Verlagerung des Passionsspiels in die Essener Innenstadt und schließlich ins TV, wie man hätte erwarten können, sondern mit Akkomodation . Vertreter:innen der Kirche begriffen die Möglichkeit großer Beachtung der Passionsgeschichte als Chance. Ihm sei klar, sagte etwa der Kulturbeauftragte der evangelischen Kirche Johann Hinrich Claussen, „dass wir als Kirchen nicht mehr unhinterfragt die Interpretations- und Deutungshoheit haben“.
Dies erklärt, warum die Kirchen den TV-Sender RTL die Passionsgeschichte als ihren am meisten identitätsstiftenden Inhalt gerne erzählen ließen, obwohl dessen theologischer Gehalt dabei stark gemindert wurde. Kritisch betrachtet, könnte man sagen, dass eine solche ‚Auslagerung‘ die Kirchen Identität kostete, denn bei dieser Inszenierung sollte nicht der Glaube an die Erlösung durch Christi Passion forciert, sondern sollten „übergreifende Werte“ vermittelt werden. Die Süddeutsche Zeitung zitierte Thomas Gottschalk, der als Moderator durch den Abend führte: „Wir erzählen Ihnen heute Abend weder ein frommes Märchen noch feiern wir hier einen Gottesdienst. Sondern wir erzählen eine Geschichte, die unsere Kultur geprägt hat“.
Unabhängig davon, ob der Inhalt der Passionsgeschichte als populär angesehen wird, fällt auf, dass die RTL-Inszenierung durch die Wahl des Moderators und des Casts dem biblischen Stoff einen maximal populären Rahmen gibt. Thomas Gottschalk kann als der bekannteste deutsche Moderator angesehen werden und mit Alexander Klaws spielt der erste Gewinner von Deutschland sucht den Superstar Jesus Christus. Inwiefern die Mitwirkenden im Sinne der Kirche agieren, bleibt fraglich. Die oben zitierte Eröffnungsmoderation von Thomas Gottschalk und auch die Aussage von Alexander Klaws in einem Interview mit einer christlichen Influencerin legen nahe, dass es nicht um Werbung für die Kirche geht: „Im Großen und Ganzen ist das Besondere an dieser Passion hier ja eigentlich, dass es gar nicht so bibelfest sein muss. Also die Religion an sich steht jetzt gar nicht so im Vordergrund. Es ist einfach nur die Geschichte, die etwas mit den Menschen macht und es geht eigentlich darum, offen zu sein, auch etwas zu sehen, wo man eigentlich eine Vormeinung hat oder vielleicht ein Vorurteil immer schon im Kopf hatte: ‚So muss etwas sein, so stehts in der Bibel‘, der sagt: ‚Das ist so oder so‘. Und ich glaube, dass es um diese Geschichte, diese Werte geht. Egal, ob du jetzt religiös bist oder nicht.“ Zitat Nina Strehl @ninastrehl auf Instagram
Immerhin gestalteten beide christlichen Konfessionen ein Rahmenprogramm für die RTL-Passion, das neben einem Abschlusswort auch die Öffnung der Kirchengebäude der umliegenden Gemeinden während des Live-Events umfasste. Die Deutungshoheit über den zentralen Inhalt der Show aber blieb bei den Produzent:innen, die durch sogenannte „Christfluencer“, wie diejenige, die die oben zitierte Aussage von Alexander Klaws veröffentlichte, in den Sozialen Medien Unterstützung für die TV-Ausstrahlung erhielten.
Auf Instagram dokumentierten gleich mehrere Christfluencer am Tag des Live-Events ihre Anreise nach Essen, die gemeinsame Erkundung des Geländes, zu dem sie dank Presse-Ausweisen Zutritt erhielten, und über Treffen mit den Darsteller:innen der Show. Alle christlichen Creator:innen zeigten sich dankbar für und begeistert über die Möglichkeit, ein großes Publikum anzusprechen: „Wir landen in den unterschiedlichsten Haushalten, von den Fans vom Dschungel-Camp bis zu den Fans von Laith-Al-Deen und ich bin super gespannt, was das tut in den Herzen von Menschen!“ Es wird ein missionarisches Anliegen deutlich. Vermittelt wird auch das Gefühl, als Christ:innen endlich die verdiente Aufmerksamkeit zu bekommen. An der RTL-Produktion wird zudem die hohe Qualität der medialen Umsetzung eines biblischen Inhaltes geschätzt.
Die Akkommodation der Kirchen im Falle der RTL-Passion lässt sich auf den von den Kirchen erlebten „Druck, ihre Nicht-Popularität zu rechtfertigen oder selbst nach Popularität zu streben“, zurückführen (Döring et al.). Die Show bot die Möglichkeit, sich eines popkulturellen Mechanismus zu bedienen, um zentrale christliche Inhalte zu popularisieren und somit vielleicht auch als Kirchen (wieder) populärer zu werden.
Die Einschaltquote lässt die Show zunächst als Erfolg erscheinen. Allerdings zeigt sich in den Bewertungen des Events durch einen Teil der Zielgruppe ein anderes Ergebnis. Wenn man die Tweets unter dem trendenden Hashtag #DiePassion auswertet, wird deutlich, dass bloße Beachtung nicht als Gütekriterium dienen kann. Der folgende Tweet beispielsweise lässt vermuten, dass ein Teil der Öffentlichkeit die Kreuzung von high culture und low culture weniger befürwortete, als die Kirchen dies taten: „Der Zimmermann Jesus aus Galiläa wettet, dass er – und jetzt kommt’s – dass er, nachdem er an ein Holzkreuz genagelt wurde und für Tod erklärt wurde, nach 3 Tagen wieder auferstehen wird.“
Diese spöttische Haltung war auf Twitter weit verbreitet. Es scheinen hier nun gerade nicht die Anhänger:innen der Kirche, die hier als high culture begriffen wird, zu sein, die „aktiven Einspruch gegen die Geländegewinne des Populären, gegen die Erosion traditionsbezogener Qualitätsmaßstäbe und ihre Ersetzung durch quantitative Erfolgsmetriken“ (Döring et al.) erheben, sondern zahlreiche Rezipient:innen, die sich gegen Popularisierungsversuche der high culture resistent zeigen. Die Integration von religiös-traditionell aufgeladenen Inhalten aus der high culture in populäre TV-Formate stößt auf starke Häme. Ein Text bei Zeit Online trug den Titel „Heilige Scheiße“, und bei Bild war die Rede von einem „unfreiwilligen Trash-Spektakel“. Offenbar ist die Passionsgeschichte so stark mit der Institution Kirche verbunden, dass der Versuch, diese zu popularisieren, auch von kirchenfernen Menschen abgelehnt wird.
Die Verspottung des TV-Formats kann freilich auch einfach als ein Spezifikum der Online-Kommunikation auf Twitter im Sinne einer Geselligkeitskonvention interpretiert werden, die von RTL bei der Adaption der Passion eingeplant wurde. Dann wären die kritischen und hämischen Twitter-Beiträge nicht als tatsächlich resistente Reaktion des RTL-Publikums gegenüber der kirchlichen Akkommodation anzusehen. Daraus und aus der Hinzuziehung der werbenden Instagram-Beiträge von evangelikalen Influencern lässt sich schließen, dass die RTL-Passion zwei verschiedene Zielgruppen bedient. Zur ersten Zielgruppe gehören Kirchenanhänger:innen und evangelikale Christ:innen, die sich über die Popularisierung ‚ihres‘ Inhaltes freuen und im Ergebnis auf die wiedererstarkende Popularität von Kirche bzw. Christentum hoffen. Zur zweiten Zielgruppe zählen kirchen- und glaubensferne Menschen, die unterhalten werden möchten und die die Verbindung von kirchlichen Inhalten und der Prime-Time auf RTL zu unverhohlenem Spott auf Online-Medien reizt.
Wertet man weitere polemische Tweets und mediale Formate wie Videos und Podcasts aus, wird allerdings deutlich, dass es auch eine popkulturelle Verwertung der RTL-Show gibt. Ein Ausschnitt aus der Fernsehsendung TV total auf YouTube unter dem Titel „Die Passion – eine messerscharfe Analyse“ und die Folge „Kreuzweg durch den Fernsehabend (feat. Micky Beisenherz)“ des Podcasts Baywatch Berlin von Klaas Heufer-Umlauf und dessen Kollegen etwa griffen die Fernsehshow auf und generierten damit selbst Quoten, die im Fall des TV total YouTube-Videos mit über 85.000 Klicks beachtlich höher war als bei anderen Videos des Kanals. Der Blick auf den Inhalt legt nahe, dass es auch hier um Kritik an und damit Resistenz gegenüber dem Versuch der Integration eines high culture-Inhalts in das low culture-Format RTL-TV-Show bei zugleich bewusstem Profitieren vom Event in ironisch-satirischer Brechung geht.
Wie gut passen Pop und Passion also zusammen? Es zeigt sich am Beispiel der RTL-Passion, dass sich das Populäre transformieren kann und die in der Analyse eingenommene Perspektive entscheidend ist. Dies beginnt bei der Zuordnung von Akteur:innen zur high bzw. low culture und wird in dem hier besprochenen Fall besonders deutlich in der Anwendung des Akkommodationsbegriffs. Im Rahmen dieses Blogs kann nicht abschließend geklärt werden, aus welchen Motiven heraus die Vertreter:innen der high bzw. der low culture in diesem Maße akkommodierend bzw. resilient bis resistent reagieren. Dennoch kann Folgendes festgehalten werden:
Viele Menschen in den Sozialen Medien verweigerten sich der Verbindung von Pop und Passion im Format einer RTL-Show – Kirchenvertreter:innen freuten sich dagegen über eine Chance, christliche Inhalte und damit die Kirchen selbst wieder populärer zu machen. Der Sonderforschungsbereich „Transformationen des Populären“ verfolgt die These von der „Umkehr der Beweislast“, die besagt, dass etablierte Institutionen unter Druck geraten, sich als populär zu erweisen. Unter diesem Druck steht gerade die Kirche, die hier allerdings auch die Probleme zu spüren bekommen hat, die entstehen können, wenn man sich diesem Popularisierungsdruck unterwirft. Die Kirche als etablierte Institution ging im Blick auf die TV-Show mit der Umkehr der Beweislast in einem hohen Grad akkommodierend um. Die Unterscheidung high vs. low scheint angesichts solcher Fälle an Bedeutung zu verlieren.