Wissenschaftliche Expertise und die Macht des Populären
Die „Entgrenzung des Populären“1 konfrontiert heute alle gesellschaftlichen Institutionen mit einer neuen Art von Macht. Sie kann sich für institutionelle Zwecke als hilfreich erweisen, sie kann aber auch die Geltungsansprüche von Institutionen abrupt zur Disposition stellen. Das zwingt alle Institutionen zur Berücksichtigung des Populären und reproduziert seine Macht. In der Covid-19-Pandemie konnte man diesen Zusammenhang und seine Folgen so deutlich wie selten zuvor beobachten.
In gesamtgesellschaftlichen Katastrophenfällen wie einer Pandemie wird ein Grundzug der Moderne besonders aktuell: die „Explosion von Entscheidungsnotwendigkeiten“ (Niklas Luhmann).2 In vormodernen, agrarisch und handwerklich geprägten Gesellschaften ist das Zusammenleben vor allem von kontextuellen Gegebenheiten und Routinen bestimmt. In der Moderne dagegen stehen Organisationen unter permanentem Entscheidungsdruck, und jede ihrer Entscheidungen zieht weitere Entscheidungsnotwendigkeiten nach sich. In Katastrophen eskaliert dieser Entscheidungsdruck.
Organisationsentscheidungen bedürfen der Expertise: „Jede Entscheidung umgibt sich mit Informationen, setzt Kenntnisse voraus und beschafft sich bei Bedarf notwendiges Zusatzwissen.“3 Moderne Expertise rechtfertigt sich als solche vor allem durch ihre wissenschaftliche Provenienz.
Organisationsentscheidungen betreffen Personen und konditionieren ihre Handlungsmöglichkeiten. In der Moderne ändert sich dadurch der Sinn von Partizipation: „Teilnahme heißt jetzt: Einfluß auf Entscheidungen haben und nicht mehr: seinen Platz in einem größeren Ganzen finden. Damit wird der Begriff, wie man in den letzten Jahrzehnten deutlich sehen kann, politisiert und mit Erwartungen überladen, die nicht erfüllt werden können.“4
In der Covid-19-Pandemie nahm daher nicht nur der Bedarf nach wissenschaftlicher Expertise sprunghaft zu, auch die Skandalisierbarkeit wissenschaftlicher Politikberatung und ungleich verteilter Partizipationschancen an politischen Entscheidungen wuchs rapide.
Die politischen Entscheidungen, die das Schlimmste verhindern sollten, wurden sehr bald selbst zum Gegenstand von Ängsten, Sorgen und politischem Aktivismus. Die wissenschaftlichen Einschätzungen, auf deren Informationen sich die politischen Entscheidungen stützten, wurden zwar in den betroffenen Bevölkerungen weithin als maßgeblich anerkannt, es konsolidierte sich aber auch eine starke Minderheitenposition, die die Maßnahmen ablehnte oder als fehlkalibriert beurteilte. In Opposition zur wissenschaftlich begründeten Pandemiepolitik brachte sich der Widerstand distinktionsbewusst in der Form eines aggressiven Skeptizismus zur Geltung, der die Rationalität der wissenschaftlichen Expertise schlicht leugnete. Das Erschrecken über diesen offenkundigen Willen zur Irrationalität wiederum motivierte eine ihrerseits mythisch grundierte Wissenschaftsgläubigkeit. Die Debatte über problematische Abkürzungen politischer Entscheidungsprozesse und zusätzlich zu berücksichtigende Fachperspektiven konnte unter diesen Bedingungen nicht öffentlichkeitswirksam ausgetragen werden.
In der deutschen Öffentlichkeit wurde in dieser schwierigen Debattenlage der Virologe Christian Drosten unfreiwillig zur Ikone der populären Pandemie-Expertise. Der Norddeutsche Rundfunk hatte den führenden Coronaforscher schon frühzeitig in einem regelmäßigen Podcast zu Gast.5 Seine umfassenden, differenzierten und stets um Aktualisierung bemühten Auskünfte zur Coronalage wurden schnell zur wichtigsten Informationsquelle für die interessierte Fachöffentlichkeit des Gesundheitssystems. Darüber hinaus vermittelte seine unprätentiöse Faktenorientierung einem allgemein interessierten Publikum so etwas wie die kollektive Zuversicht, dass die furchtbare Gefahr der Pandemie in ein resolutes Risikobewusstsein verwandelt werden könne. Im Mai 2020 verzeichnete der NDR-Podcast Coronavirus Update 41 Millionen Abrufe.6
Durch die steile Popularitätskurve des NDR-Podcasts, die fatal an die Konjunktur eines populärkulturellen Megahits erinnerte, erhielt Christian Drosten eine symbolische Geltung, die sich von der empirischen Person und ihrer Tätigkeit völlig ablöste. Sowohl für diejenigen, die die Pandemiepolitik der Bundesregierung befürworteten, als auch für diejenigen, die sie ablehnten, verdichteten sich in der Imago Christian Drostens die Argumente für bzw. gegen die regierungsamtliche Politik. Man konnte diese Argumente durch die Bewunderung und die Verachtung des „Star-Virologen“ gleichsam en bloc beanspruchen und artikulieren.
So wurde Christian Drosten ein attraktiver Gegenstand für den populären Kampagnenjournalismus und dessen Bewirtschaftung gesellschaftlicher Kontroversen. Die populärste deutsche Tageszeitung, die BILD-Zeitung, konfrontierte Drosten im Mai 2020 mit Kritik an einer von ihm verantworteten Studie und forderte ihn auf, innerhalb einer Stunde die kritischen Punkte zu beantworten. Auf Twitter reagierte Drosten mit dem Satz, „Ich habe Besseres zu tun“.7 Dieser Satz wurde für ‚Drosten-Fans‘ instantan zu einem Social-Media-Meme. Nur Wochen später wurde das Meme von der Punk-Band ZSK zu einem Drosten-Song verarbeitet.8
Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL widmete Christian Drosten in seiner Ausgabe vom 30. Mai 2020 eine Titelgeschichte und markierte so den Kulminationspunkt der Popularisierung Drostens zur Ikone der Pandemie-Expertise: „Verehrt und verhasst. Der Glaubenskrieg um den Virologen Christian Drosten“. Seit dem Jahr 1988, in dem Stephen Hawking vom SPIEGEL-Cover herunterfragen durfte, ob es einen Gott gebe, war das nicht mehr gesehen worden: eine lebende Person der Wissenschaft, die mit einer Titelgeschichte des SPIEGEL beehrt wurde.
Die große Popularität, die Christian Drosten in der Pandemie zugewachsen ist, rückt ihn an die Seite anderer sehr populärer Meinungsträger*innen. Seine wissenschaftliche Reputation, die nur von Fachkolleg*innen beurteilt werden kann, ist nur mittelbar Teil dieser Popularitätsgeltung. Für Lai*innen ist nicht zu erkennen, welche unter den populären Meinungen zur Pandemie wissenschaftlich gut und welche schlecht begründet ist. Drostens Expertise und ihr Vokabular können im Gegenteil von weniger gut ausgewiesenen Meinungsträger*innen oberflächlich nachgeahmt und in scheinbar ebenso gut begründete Kontrapositionen übersetzt werden. Populäre Expertise ermöglicht populäre Anti-Expertise.9
Dieser Mechanismus beruht darauf, dass Popularität prinzipiell als ein intransparenter Selektionsmechanismus wirkt. „Populär ist, was viele beachten.“10 Etwas ausführlicher gesprochen und mit Betonung auf dem irreduziblen sozialen Eigensinn des Populären: Populär ist, was offenkundig bei vielen Beachtung findet und deshalb zur Beachtung motiviert. Oder noch einmal anders: Popularität bedeutet jede Chance, innerhalb eines umfangreichen sozialen Beziehungsgeflechts die eigene Beachtlichkeit durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Diese Eintragung des Popularitätsbegriffs in Max Webers berühmte Formel11 perspektiviert Popularität als ein Machtanalogon.
Dabei hat das Populäre im Unterschied zur Macht zunächst eine indirekte oder negative Funktion. Im Geltungsbereich populärer Beachtungserfolge gilt dasjenige, das formal konträr zu ihm steht, als nicht populär. Zu popularisieren bedeutet zunächst, Wahrscheinlichkeiten der Nichtbeachtung zu schaffen, die Chance zu erhöhen, dass konträr zum Populären Geformtes unbeachtet bleibt und seine Offerte entmutigt wird.
Indem das Populäre die Wahrscheinlichkeit des Nichtpopulären erhöht, nicht beachtet zu werden, reduziert das Populäre das typisch moderne Überangebot an Aufmerksamkeits- und Kommunikationsgelegenheiten. Aber dabei orientiert es sich nicht an Informationsaspekten, sondern bewertet zukünftige Beachtungschancen allein nach vergangenen Beachtungserfolgen. Aus der Sachperspektive von Personen und Organisationen, die aus ihrer Sicht allgemein interessante und relevante Informationen mitteilen wollen, bereitet das Populäre daher vor allem Kommunikationsstress: Gilt man ausweislich der beobachtbaren Beachtungserfolge als nicht populär, kann man nicht davon ausgehen, dass an die eigene Mitteilung weitere Kommunikation anschließt; erzielt man dagegen beobachtbare Beachtungserfolge, bleibt unklar, ob der Informationsaspekt der eigenen Mitteilung verständnisleitend war.
Da Popularität ein intransparenter Selektionsmechanismus ist, begünstigt besonders reichweitenstarke Expertise – gerade in gesamtgesellschaftlichen Katastrophenfällen – Misstrauen und also Popularisierungschancen für ähnlich geformte Anti-Expertise. Im Medium des Populären wird der Informationsgehalt entscheidender Ratschläge in einen Meinungskonflikt populärer Expert*innen und Anti-Expert*innen übersetzt. In einer Pandemie sind die Erklärungen und Ratschläge von Virolog*innen und Epidemiolog*innen für die politischen Entscheidungsträger*innen unverzichtbar. Die daraus erwachsene Popularität behindert dann jedoch die allgemein aufklärende Funktion dieser Expertise für die Betroffenen politischer Entscheidungen.
Was kann man daraus für die Programmatik allgemein aufklärender Wissenschaftskommunikation ableiten? Die alte Programmatik der Volkspädagogik, nach der die große Gruppe der Lai*innen von der kleinen Gruppe der Expert*innen mit nützlichem Wissen versorgt wird, indem die Expert*innen das Vokabular dieses Wissens dem Lai*innenverständnis anpassen, ist in einer Kultur entgrenzter Popularisierungspraktiken nicht mehr sachgemäß.
Die aufklärerische Funktion der Wissenschaftskommunikation muss das Medium des Populären unterlaufen. Das geht vor allem in der Form von Interaktion und getragen durch nicht-populäre Expert*innen (die vielen qua Popularität ‚namenlosen‘ Wissenschaftler*innen ‚vor Ort‘), die mit Personen aus anderen Berufen (also nicht-wissenschaftlichen Expert*innen) ins direkte Gespräch über die relevanten Forschungsstände kommen können.
Dass die Pandemiepolitik trotz explodierender Entscheidungsnotwendigkeiten und trotz der populären Irrationalismen hinsichtlich der verfügbaren wissenschaftlichen Expertise von einer großen Mehrheit mitgetragen wurde, lässt sich als Erfolg der unscheinbaren Alltagskommunikation nicht-populärer Wissenschaftler*innen deuten.
Jochen Venus ist wissenschaftlicher Koordinator des DFG-Sonderforschungsbereichs 1472 „Transformationen des Populären“ an der Universität Siegen.
Anmerkungen
1 Vgl. Jörg Döring, Niels Werber, Veronika Albrecht-Birkner, Carolin Gerlitz, Thomas Hecken, Johannes Paßmann, Jörgen Schäfer, Cornelius Schubert, Daniel Stein, Jochen Venus: "Was bei vielen Beachtung findet: Zu den Transformationen des Populären". In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2 (2021), 6. Jg., S. 1–24.
2 Niklas Luhmann (1996): „Entscheidungen in der Informationsgesellschaft“. In: Giancarlo Corsi und Elena Esposito (Hg.): Reform und Innovation in einer unstabilen Gesellschaft. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2005. S. 38.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Der-Podcast-mit-Christian-Drosten-Sandra-Ciesek,podcastcoronavirus100.html
6 https://www.ndr.de/nachrichten/info/Behind-the-Scenes-II-Talk-mit-dem-Podcast-Team,audio684596.html
7 https://twitter.com/c_drosten/status/1264934434756755456
8 https://www.youtube.com/watch?v=5OZdKwFSWZw
9 Vgl. dazu die Befunde der explorativen Studie von Johannes Paßmann, Martina Schories und Luca Hammer in dieser Blogreihe: https://sfb1472.uni-siegen.de/publikationen/expertise-und-ihre-titel
10 Thomas Hecken (2006): Populäre Kultur. Mit einem Anhang ‚Girl und Popkultur‘. Bochum: Posth, S. 85.
11 „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Max Weber [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mohr, Tübingen 1972, S. 28).
SUGGESTED CITATION: Venus, Jochen: Wissenschaftliche Expertise und die Macht des Populären, in: KWI-Blog, [https://blog.kulturwissenschaften.de/wissenschaftliche-expertise-und-die-macht-des-popularen/], 28.03.2022