„Popu­la­ri­zing Violence“: Zur Popu­la­ri­sie­rung von Gewalt und zur Popu­la­ri­sie­rung durch Gewalt – Ein Work­shop-Bericht

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05.02.24

Wie wird Gewalt popularisiert, und wie popularisiert Gewalt? Welche Formen der Ästhetisierung von Gewalt dominieren in gegenwärtigen Repräsentationen von tatsächlicher und fiktiver Gewalt? Der fortdauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat ein neues Bewusstsein dafür geschaffen, dass nicht nur mediale Gewaltdarstellungen, sondern auch die tatsächliche Gewaltausübung in viel höherem Maße Teil der Gegenwart sind als weithin in Europa angenommen. Konzeptionelle Fragen der Gewaltsoziologie, wie jene nach unterschiedlichen Formen von Gewalt oder solche nach einer sinnvollen Unterscheidung zwischen tatsächlicher Gewalt, Repräsentationen tatsächlicher Gewalt und Darstellungen fiktiver Gewalt erlangen im Zuge dieser kollektiven Bewusstwerdung auch größere gesellschaftliche Bedeutung. Im Workshop Popularizing Violence, der im Rahmen des SFB 1472 ‚Transformationen des Populären‘ am 15. und 16. September 2022 an der Universität Siegen stattfand, wurden daher solche Unterscheidungen im Zusammenhang mit Beachtungserfolgen und Popularisierungsstrategien diskutiert.

Dass sich ästhetisierte Gewaltdarstellungen gut verkaufen, zeigt sich nicht zuletzt im Superheldengenre. Der Ruhm von Superhelden beruht auf ihrer gewalttätigen Selbstjustiz gegen Schurken und Bösewichte. Comics und ihre Verfilmungen ästhetisieren nicht nur die Gewalt der Schurken-Charaktere. Sie ästhetisieren auch die gerecht erscheinenden, gewaltvollen Reaktionen der Helden. Inwieweit teilen die Rezipient:innen des Genres die, oft impliziten, Rechtfertigungslogiken für eine solche „gerechte“ oder gerecht erscheinende Gewaltanwendung durch Superhelden?

In seinem (gemeinsam mit Laura Désirée Haas und Anne Deckbar verfassten) Vortrag zur Verhandlung von Gewalt in einem Fanforum der Superhelden-Serie Captain America zeigte Daniel Stein einen Ausschnitt aus der Serie, in der die Frage nach dem richtigen Maß gerechter Gewaltanwendung aufgeworfen wird. Die Anwesenden sahen eine Szene, in welcher Captain America nicht aufhört, brutal auf „den Schurken“ einzuschlagen, obwohl dieser bereits besiegt ist. Unbeteiligte Dritte, so sehen es die Zuschauer der Folge, filmen schockiert mit ihren Smartphones das Ereignis, um die enthemmte Gewalttat zu dokumentieren. Was bleibt vom Heldentum, so die Frage, die die Fans im Onlineforum diskutieren, wenn Captain America dem Lustgefühl der Rache folgt?

Haas und Deckbar kommen in ihrer Auswertung der Diskussion zu dieser Szene in einem Fanforum zu der Schlussfolgerung, dass die Diskutierenden eine Analysefähigkeit und ausgeprägte Höflichkeit im Umgang miteinander an den Tag legten, die erstaunt. In der Diskussion führen die Teilnehmenden des Workshops dieses Erstaunen darauf zurück, dass das Ergebnis im Kontrast steht zu einem Alarmismus medialer Debatten über eine mutmaßliche Verrohung derer, die gewaltvolle Serien und Filme rezipieren. Dies lässt annehmen, dass Gewaltausübung zum Vergnügen (animi causa) oder aufgrund fehlender Affektregulation auch mit populärkulturellen Mitteln problematisiert werden und eine Debatte über ethisches Verhalten anregen kann. Wird Captain America vielleicht einmal in einer Reihe mit Seneca und Plutarch genannt, wenn Gesellschaften sich über die Frage verständigen werden, wie weit „gerechter Zorn“ gehen dürfe?

Das Ergebnis der Untersuchung zur Diskussion über Captain America ist auch insofern bedeutsam, als es die wiederkehrende „Sorge um die Jugend“ in Frage stellt, die Stuart Hall in seinem Buch Policing the Crisis (1978) mit dem Konzept der „moral panics“ analysiert. Repräsentationen und Ästhetisierungen von fiktiver und tatsächlicher Gewalt in Jugendkulturen geben immer wieder Anlass für solche „moral panics“ – ganz gleich, ob es sich um Gangsta-Rap oder um Gewaltdarstellungen in Computerspielen handelt, in denen fiktive Charaktere Gewalt erfahren und ausüben. „Moral panics“ sind in Stuart Halls Denken nicht zu trennen von seiner Analyse des Krisendiskurses des „Thatcherismus“ der 1980er-Jahre, in dem [laut Hall] race, crime und youth zu einem weit verbreiteten Gefühl der Angst kondensierten, das dem autoritären Konsens einer law-and-order society Vorschub leistete (vgl. Stuart Hall: Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order. London 1978).

In ihrem Vortrag über die Studierendenproteste in Südafrika (2015–2017) griff Heike Becker, Professorin für Anthropologie an der University of the Western Cape in Kapstadt und eine von zwei externen Workshop-Gästen, genau jenes Gefühl der kollektiven Angst auf, das Hall mit dem Konzept der „moral panics“ zu fassen versuchte. Die gesellschaftliche Wahrnehmung der Proteste war laut Becker geprägt von einer reflexhaften Überbetonung der Gefahr, die angeblich von ihnen ausginge. Die Studierendenproteste, die international vor allem als #FeesMustFall und #RhodesMustFall bekannt wurden, richteten sich dagegen, dass koloniale Curricula auch im heutigen Südafrika noch präsent sind, und kritisierten ein Hochschulsystem, das nur wenigen, meist wohlhabenden jungen Erwachsenen eine Chance auf Hochschulbildung ermöglicht. Wie Becker zeigte, waren für die Proteste tradierte struggle songs, deren Ursprung in den anti-kolonialen und Anti-Apartheid-Bewegungen liegt, von großer Bedeutung.

Als eines der einflussreichsten Lieder wurde „Nkosi Si-kelelʼ iAfrika“, übersetzt: „God Bless Africa“, von den Studierenden als „dekolonisierte Nationalhymne“ Südafrikas neu interpretiert. Diese Wieder-Aneignung der Hymne durch meist Schwarze Studierende als Protestsong verdeutliche, so Becker, welche Kämpfe um Deutungshoheit die heutige südafrikanische Gesellschaft prägten.


Kurz einige Erläuterungen von uns Autor:innen zur Geschichte der Hymne: Sie wurde Ende des 18. Jahrhunderts als Kirchenlied von Enoch Sontonga, der auch Lehrer an einer Missionsschule war, komponiert. Die Mitglieder des African National Congress (ANC) sangen „Nkosi Sikelelʼ iAfrika“ zum Abschluss ihrer panafrikanisch orientierten Gründungsversammlung 1912. Ab 1925 war „Nkosi Sikelelʼ iAfrika“ die offizielle Hymne des ANC und spielte eine zentrale Rolle im Kampf gegen Kolonialismus und Apartheid im südlichen Afrika. Die Hymne wurde im Zuge von Nelson Mandelas „Rainbow Nation“-Politik um Verse in Englisch und Afrikaans ergänzt, letztere wurden der Nationalhymne der Apartheid-Ära entlehnt. In dieser Fassung dient „Nkosi Sikelelʼ iAfrika“ seit 1995 als südafrikanische Nationalhymne.


Laut Becker verankerten die studentischen Protestierenden durch das Entfernen der Passagen auf Englisch und Afrikaans aus der Nationalhymne ihren Protest in den historischen Kämpfen gegen Kolonialismus und Apartheid – Kämpfe, die sie als nicht abgeschlossen ansehen. Die dekolonisierte Nationalhymne sei Teil ihrer Forderung, den Prozess der Dekolonisierung fortzuführen, da viele der Ziele der Anti-Apartheid-Bewegung, wie beispielsweise die sozioökonomische Gleichstellung der nicht-weißen Südafrikaner:innen, bis heute nicht verwirklicht sind.

Becker stellte in ihrem Vortrag dar, wie mit Polizeigewalt auf den friedlichen Protest der Studierenden der University of the Western Cape im Zuge von #FeesMustFall reagiert wurde und dass dies in der medialen Berichterstattung wenig Berücksichtigung fand. Sie schilderte, wie etwa 6.000 Studierende unter dem Singen von Protestsongs vom Campus der UWC zum nahegelegenen Flughafen zogen, um ihren Forderungen nach einer öffentlichen Finanzierung der Hochschulbildung auch gegenüber staatlichen Organen und mit Mitteln zivilen Ungehorsams Gehör zu verschaffen. Becker beschrieb, wie dieser friedliche Protestzug von der Polizei mit massiver Gewalt aufgelöst wurde. Unter anhaltender Gewaltanwendung seien die Studierenden zurück zum nahegelegenen Campus getrieben worden, wo ihr Frust über diese traumatische Erfahrung der nicht gerechtfertigten gewaltvollen Reaktion der Polizei sowie ihre Kritik an der Polizeipräsenz auf dem Campus in Sachbeschädigungen und versuchte Brandstiftung mündeten. Becker sah gute Gründe dafür, diese gewaltvollen Reaktionen der Studierenden zwar als illegal, aber nicht als illegitim einzuordnen. In diesem Zusammenhang verwies sie auf ein Zitat aus einem Kommentar der Historikerin Sarah Godsell aus der Zeitung Daily Maverick (2015):

The definition of violence we work with in this country is profoundly anti-black and anti-poor. Service delivery protests [Demonstrationen, die die unterbrochene oder nicht-existente öffentliche Versorgung mit Strom und Wasser fordern] are considered violent. Corporate fraud is not. Student protests are considered violent. Vice chancellor’s salaries are not. The criminalisation of students is not considered violence. [...] I do not want people to be hurt, or killed. But I want a definition of ‚non-violence‘ to include the non-physical – or physical types of violence that are erased – violence that perpetuates the status quo in our country. [...] We are protesting against this fee increase, but also against the structural, everyday violence against black bodies on campus.

Becker plädierte in ihrem Vortrag dafür, race, Kolonialismus und Ungleichheit als wesentliche Bestandteile von struktureller Gewalt anzuerkennen; einer Gewalt, die die Situation der Studierendenproteste strukturiere. Darüber hinaus stellte sie, ohne auf Halls Konzept der „moral panics“ direkt zu rekurrieren, dar, wie Ängste vor der Gewalt Schwarzer junger Erwachsener und Jugendlicher mediale und gesellschaftliche Debatten in Südafrika bis heute prägen. In ihren Worten: „In addition to social inequality, and inextricably connected to it, race remains the dominant underlying feature of the narrative of the violence of black youth culture, from the young lions of South African townships in the late apartheid period through to the Kwaito generation of the early post-apartheid era and more lately the young Fallist protestors in song“ (Becker: Vortragsprotokoll, unveröff., 2022).

Das Beispiel wirft Fragen nach der Legitimität von Gewalt als Instrument der politischen Auseinandersetzung auf. Für die Protestierenden und ihre Wortführer:innen ist die Definition der Situation geprägt durch strukturelle Gewalt. Ihr Protest gegen diese Situation wird durch das gewaltvolle Eingreifen der Polizei, beziehungsweise „des Staates“, aufgehalten. Ihre Neuinterpretationen von struggle songs thematisieren und verbreiten diese Sicht. Zeitgleich folgt der öffentliche und mediale Diskurs einer Interpretation der Gewalt der Demonstrierenden als einer scheinbar fast zwangsläufigen Entwicklungslinie einer von Schwarzen jungen Erwachsenen getragenen sozialen Bewegung. In dieser Situation zeigt sich die enorme Bedeutung der struggle songs als Mittel politischen Handelns für die Protestierenden. Das gemeinsame Singen und rhythmische Handeln (Tanzen, Bewegen im Takt und Gleichklang) erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl, transportiert performative Praktiken des weithin als legitim angesehenen Anti-Apartheid-Protests und markiert die Studierendenproteste als eine Fortschreibung desselben im neoliberalen Kapitalismus in Verbindung mit einer sehr geringen Redistribution von Reichtum im heutigen Südafrika. Aufgrund dieser Bedingungen hat sich die soziale Ungleichheit nicht verringert, sondern verfestigt. Die durch die Apartheid geschaffenen rassifizierten Klassenunterschiede, die durch eine große Armut Schwarzer Südafrikaner:innen gekennzeichnet sind, bestehen weiterhin. Die Forderung der Protestierenden, den Kampf der Dekolonialisierung fortzuführen, zielt vor allem auch auf eine ökonomische Gleichstellung.

Der zweite externe Gast, Shane Denson von der Universität Stanford, warf die Frage nach der Form bzw. der Körperlichkeit von Gewalt auf. In seinen Ausführungen zu den Möglichkeiten von „Deep Fakes“ erläuterte Denson die gewalttätigen Dimensionen des sogenannten „face swapping“. Bei dieser Form des Deepfakes wird das Gesicht einer in einem Video dargestellten Person durch das Gesicht einer anderen Person ersetzt. Solche Fälschungen sind laut Denson insofern gewaltvoll, als sie oft verwendet würden, um ein besonderes pornografisches Lusterleben zu bieten – auf Kosten der Selbstbestimmung von FLINTA* über ihre Darstellung in Videos. Die Produzent:innen solcher Videos ersetzen die Gesichter der Pornodarsteller:innen durch die Gesichter prominenter Frauen. Denson argumentierte, dass die Lust für die Betrachter:innen vor allem in der andauernden Irritation bestehe, in dem Changieren zwischen „wirklich-echt-erscheinend“ und wahrnehmbaren Anzeichen einer Fälschung. Die technische Kunstfertigkeit der Produzent:innen bestehe also darin, den Betrachter in einen Zustand ständigen Hin- und Hergerissenseins zu versetzen. Denn die gefakte Mimik und oft auch die nachgemachte Stimme seien meist so gut, dass es sich tatsächlich um ein Original handeln könnte, solange nicht kleine Ungereimtheiten den Rezipienten dazu provozierten, dem Fake zu misstrauen. Denson verdeutlichte dies an der Beschreibung eines der ersten pornografischen Deepfakes von 2017: „a box occasionally appeared around her [the famous woman’s] face where the original image [of the porn actress] peeks through, and her mouth and eyes [of the famous woman] don’t quite line up to the words the actress is saying—but if you squint a little and suspend your belief, it might as well be [the famous woman]“ (Samantha Cole: „AI-Assisted Fake Porn Is Here and We’re All Fucked“, in: Motherboard, 11.12.2017).

Inwieweit eine unautorisierte Verwendung von öffentlich zirkulierenden Videos und Bildern für maschinelles Lernen und die Erstellung von Deepfakes auf ihrer Grundlage als gewaltvoll im körpersoziologischen Sinne beschrieben werden kann, beschäftigte die Teilnehmer:innen des Workshops. In der Körpersoziologie wird Gewalt in der Regel als physische Handlungen gegen Körper definiert. Handelt es sich bei Repräsentationen von Körpern auch um Körper? Wird durch das nicht-autorisierte Verwenden medialer Repräsentationen von Gesichtern, die in der europäisch-nordamerikanischen Welt üblicherweise als körperliche Träger einer einzigartigen Persönlichkeit angesehen werden, physische Gewalt verübt? Handelt es sich bei Deepfakes dieser Art also um eine neue Form der Gewalt, die sich aber trotzdem mit genuin körpersoziologischen Ansätzen untersuchen lässt?

Angesichts der Gewalt, die reale Personen nach wie vor erleben, wie jene, die Becker am Beispiel der protestierenden Studierenden thematisierte, scheint eine Unterscheidung zwischen Gewalt gegen eine Person und Gewalt an der Repräsentation der Person notwendig. Letztere ist zweifellos eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte, aber ist sie auch eine Verletzung des Körpers und seiner Integrität im physischen Sinne? Die Desinformationskampagnen, die während der Corona-Pandemie und im fortdauernden Russland-Ukraine-Krieg zu einer eklatanten Gefahr demokratischer Willensbildung angewachsen sind, zeigen, dass die Übergänge zwischen diesen Gewaltformen fließend sein können: So werden Deepfakes vermehrt zur Delegitimation von Gegner:innen und zur Legitimation eigener physischer Gewalthandlungen eingesetzt. Die Verletzung von Persönlichkeitsrechten in Deepfakes kann in diesen Fällen die tödliche Gewalt des Krieges unterstützen.

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Work­shop

15.–16. 09. 2022
15.09. | 12:15 Uhr – 19:00 Uhr
16.09. | 09:30 Uhr – 13:30 Uhr

Location: University of Siegen
Herrengarten AH A 217/18

15.09.22
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