Interview
27.08.24

Ralf-Rainer Rygulla, geb. 1943 in Laurahütte bei Kattowitz, aufgewachsen dortselbst sowie in Höxter/Weser, anschließend wohnhaft in Essen (1960–63), London (1963–66), Köln (ab 1966) und seit 1970 in Frankfurt am Main. Ausbildung zum Buchhändler, Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln, DJ, Diskothekenbetreiber, Musiker, Songtexter, Übersetzer und Lektor (u. a. 1969–71: März Verlag; 1972: Rowohlt Verlag), Mitherausgeber von Der Gummibaum – Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969–1970) und diverser literarischer Anthologien und Kompilationen. Zuletzt erschien, hrsg. gemeinsam mit Marco Sagurna, die umfangreiche Anthologie Der Osten leuchtet (Dielmann 2022) mit Lyrik aus 21 Ländern Ost- und Südost-Europas. (Weitere Infos zur Person)

Die „Einübung einer neuen Sensibilität“ (Brinkmann) wurde in der deutschsprachigen Literatur wesentlich durch die von Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) und Ralf-Rainer Rygulla initiierten Übersetzungen und Editionen von Texten der amerikanischen Pop- und Underground-Szene befördert. Dies gilt zuvorderst für ihre umfangreiche und viel beachtete Übersetzungsanthologie ACID. Neue amerikanische Szene (März Verlag 1969). Diese „Materialsammlung mit Lesebuchcharakter“ kombinierte verschiedene Textsorten (Lyrik, Prosa, Essays, Comics, Interviews etc.) zum „Gesamtbild einer einheitlichen Sensibilität“, „die sowohl den Trivialbereich wie den hochkulturellen Bereich einschließt und für die Begriffe wie Pop oder Sub-Kultur nicht ausreichen“ (Nachbemerkung, S. 417).

Trotz ihrer unbestrittenen literatur- und kulturhistorischen Bedeutung liegen jedoch die konkreten Produktions-, Vermittlungs- und Wirkungsumstände von ACID nach wie vor im Dunkeln. Ralf-Rainer Rygulla als Co-Herausgeber ist hierfür der zentrale Zeitzeuge. Mehr noch: durch seinen mehrjährigen Aufenthalt im „Swinging London“ der 60er Jahre und die dort gemachten literarischen Entdeckungen bringt er letztlich den Stein ins Rollen. 1960 lernt er, als erst 16-Jähriger, den drei Jahre älteren Brinkmann während der gemeinsamen Buchhändlerlehre in Essen kennen. Im Anschluss geht Rygulla 1963 nach London, wo er bis 1966 bei Foyles arbeitet, damals eine der größten Buchhandlungen der Welt.

Das folgende Telefonat mit ihm führte ich am 3. Mai 2022 im Zuge meiner Recherchen im Teilprojekt A06 „Pop, Lite­ra­tur und Neue Sensi­bi­li­tät“ für die dort entstehende Projektmonografie. Das Telefonat kreist insbesondere um die zentrale, dabei von Brinkmann kritisch bewertete Rolle, die Bilder und Bildlichkeit in ACID bzw. für den (sub-)kulturellen Kontext der Anthologie spielen. Das kurze Interview wurde für die Blog-Veröffentlichung leicht überarbeitet und war der Auftakt zu weiteren, detaillierteren Gesprächen mit Ralf-Rainer Rygulla.

Roberto Di Bella


Roberto Di Bella

Darf ich unser Gespräch mit dem Handy aufnehmen?

Ralf-Rainer Rygulla

Ja, natürlich. Mit der Sprachmemo-App habe ich selbst neulich den Ton einer Schallplatte aufgenommen, die Rolf Dieter Brinkmann und ich 1965 in der Victoria Station in London gemacht haben. Es gab dort eine Automatenbox, ähnlich einem Passfotoautomaten, in denen man Schallplattenaufnahmen machen konnte. Das gab es, glaube ich, nur in England, und wir haben dort eine Schallplatte besprochen. Diese Aufnahme habe ich vorige Woche auf meinem Plattenspieler abgehört, nach zig Jahren mal wieder.1

Roberto Di Bella

Die würde ich natürlich auch mal gerne hören.

Ralf-Rainer Rygulla

Wir haben nur rumgealbert, zwei oder drei Minuten lang. Das war witzig. Aber du wolltest mir eine Frage stellen, ja?

Roberto Di Bella

Es geht um die Illustrationen in ACID und was du mir geschrieben hast, als ich dir neulich Unterlagen aus meiner Recherche im MÄRZ-Verlagsarchiv in Marbach geschickt habe. Dazu hast du mir u. a. geantwortet: „Oh je – wie kleinkariert + welch ein Ton da noch herrschte in den 60ern. Brinkmann wollte weniger Illus, Schröder wollte mehr. Ich auch. Darüber gab es ausgedehnte Streitereien in der Engelbertstraße“.

Abb. 1: Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann (1968) vor Brinkmanns Kölner Wohnhaus in der Engelbertstraße 65
Foto: Ralf-Rainer Rygulla.


Ralf-Rainer Rygulla

Ja.

Roberto Di Bella

Das hat mich überrascht. Denn für viele Leser:innen sind es doch nicht zuletzt die vielen Illustrationen, die das Besondere an ACID ausmachen. Und ich dachte bisher immer, das sei auch ganz auf Brinkmanns Linie gewesen. Kurz zuvor war sein Gedichtband Die Piloten erschienen, mit Comic-Illustrationen und einer aufwändigen Farbcollage auf dem Umschlag, die er selbst gestaltet hat. Teilweise auch mit deiner Unterstützung, wie du mir gesagt hast. Welche Rolle also spielten die Bilder in ACID? Kannst du mir dazu etwas erzählen?

Ralf-Rainer Rygulla

Nun ja, das Material, aus dem ACID und die anderen Anthologien entstanden sind… dieses Material war voller Bilder. Sie waren sozusagen ein gleichberechtigtes Medium neben dem Text. Und es war von Anfang an klar, dass wir die auch benutzen müssen, um überhaupt den Eindruck wiederzugeben, den wir wiedergeben wollten, von dieser neuen Art Literatur zu machen in den USA.

Gleichzeitig war Brinkmann sich nicht sicher, ob das nicht zu unseriös wirkt, wenn wir da so die Hippies abbilden oder Gedichte auf Bilder drucken. Ich war aber der Verfechter von mehr Bildern, weil ich fand, dass das auch mehr Abwechslung bot, mehr und schneller Interesse wecken könnte als der reine Text. Und so ging das hin und her. Jedenfalls fuhr ich mit einem Packen Fotos, Bilder, Comics nach Darmstadt, allein. Keine Ahnung, warum RDB nicht mitfuhr.

Jörg Schröder, damals noch Melzer Verlag, ein Herr Heinzlmeier und ich haben dann an einem Nachmittag die Text-Bild-Gestaltung entschieden. Ich glaube, es war der Adolf Heinzlmeier, der sehr viel später auch Autor wurde, Filmbücher und Kriminalromane schrieb. Es wäre interessant, herauszufinden, ob er mit dem damaligen Hersteller identisch ist. Jedenfalls gab es damals Hersteller in den Verlagen. Und wir haben das in einem Nachmittag hinbekommen: wohin wir die Bilder platzieren, wohin die Fotos, in welcher Reihenfolge. Zum Schluss waren zu wenig Illus da und wir mussten sie neu verteilen. Aber Brinkmann wollte nicht zu viele Fotos und Bilder haben. Das war der Stand der Dinge.

Abb. 2–7: Seitenbeispiele aus ACID (März Verlag 1969) mit Cover der schwarzen Erstausgabe,
1./2. Bindequote à 5.000 Exemplaren (Format: 27,5 : 21 cm).


Roberto Di Bella

Aber du schreibst von ausgedehnten Streitereien.

Ralf-Rainer Rygulla

Also das klingt so, als ob das ein Höhepunkt unserer Arbeit gewesen wäre. Ausgedehnte Streitereien gab es immer und ständig, aber ganz schnell auch immer wieder den Friedensschluss am Ende und das Einlenken. Es war nie so, dass da ein Nachklang war für lange Zeit. Nein, sogar am nächsten Tag schon war wieder Frieden. Aber Streitereien gab es immer, das war ein Teil der gemeinsamen Arbeit.

Die hatte Brinkmann ja übrigens mit allen: die hat er mit Dieter Wellershoff gehabt, mit den Umschlaggestaltern und Grafikern, mit allen Leuten, mit denen er zu tun hatte, durch seine Arbeit als Autor, als Dichter. Da gab es immer ganz schnell auch Differenzen, die dann sehr schnell zugespitzt wurden, sehr schnell polemisch und auch laut wurden. In dem Fall von ACID war es nur so, dass ich ziemlich getroffen war [d.h. von Brinkmanns Reaktion nach der Rückkehr aus Darmstadt, Anm. Di Bella]. Es war ziemlich schlimm, das weiß auch die Linda Pfeiffer noch. Und deswegen habe ich das erwähnt, dass es ein Höhepunkt der Streitigkeiten war. Aber eigentlich war es nichts Besonderes.

„Poetry must be made by all. Not by one.“

Roberto Di Bella

Hatte Jörg Schröder als Verleger andere Gründe dafür als du, mehr Bilder zu wollen?

Ralf-Rainer Rygulla

Als Verleger wollte er mehr Bilder haben, und ich stimmte ihm zu, dass bei dieser Textmasse mehr Bilder der Rezeption gut tun würden. Und weil ich glaube, dass man beim Blättern in einer Anthologie mit Bildern schneller hängenbleibt und schneller sich einlesen kann. Das ist meine Leseerfahrung, zumal es sich um etwas ganz Neues handelte.

Es war ja kein Material, das hier bekannt war. Sondern es war wirklich etwas, das eine völlig andere Art Literatur als in den 60ern in Deutschland vorstellen sollte, die eben von ‚unten‘ kam. Es war keine Literatur, die aus dem akademischen oder Schriftstellermilieu oder dem kreativen Bereich kam. Darin gab es Sätze wie: „Poetry is not made by one, poetry is made by all“.

Das waren ja alles auch Schlagworte, die etwas bewirken sollten. Und wir wollten damals ja etwas bewirken. Und Brinkmann wollte auch diesen anderen Ton reinbringen, in die damalige Literaturszene. Auch das war eines unserer Anliegen. Aber es ging bei den Streitereien immer auch darum: „Werden wir ernst genommen? Wird diese Sammlung ernst genommen, wenn wir zu viele Bildchen einbauen? Wirkt das noch seriös?“ Denn wir wollten, dass das die Literaturszene wahrnimmt.

Roberto Di Bella

Also auch die etablierte Literaturszene?

Ralf-Rainer Rygulla

Aber natürlich die etablierte, selbstverständlich!

Abb. 8: Doppelseite aus Ulcus Molle Szenen Reader 1971.
Hrsg. von Josef Wintjes und Frank Göhre. Bottrop: Literarisches Informationszentrum 1971, S. 14f.
©Archiv für Alternativkultur (HU Berlin)


Roberto Di Bella

Ich frag das deshalb, weil ich z. B. für meine Recherchen kürzlich auch in Berlin war, im Archiv für Alternativkultur (HU Berlin), wo der literarische Nachlass von Josef Wintjes (1947–1995) aufbewahrt wird. Ich weiß nicht, ob dir der Name etwas sagt. Das war jemand, der insbesondere für die Alternativszenen der 70er und 80er Jahre als Netzwerker wie Verleger wichtig war. Ulcus Molle Info hieß z. B. die von ihm herausgebene Zeitschrift.

Und wenn man sich diese Publikationen ansieht, wirken sie bewusst ‚unprofessionell‘ gestaltet und mit vielen kleinen Bildchen durchsetzt. Das erinnert teilweise auch an Zeitschriften aus der US-amerikanischen Gegenkultur. Sodass man vielleicht im Falle von ACID einen Widerspruch sehen könnte, dass ihr euch nämlich gesagt habt: „Wir machen etwas, was mit dem Underground zu tun hat und auch diese Optik besitzt, aber wir wollen damit trotzdem die etablierte Szene erreichen“.

Ralf-Rainer Rygulla

Richtig, genau das war Brinkmanns Absicht. Als wir an den Anthologien gearbeitet haben, hatte er ja schon zwei Erzählungsbände veröffentlicht. Und sein Roman [Keiner weiß mehr. Kiepenheuer & Witsch 1969] war gerade raus, der auch die SPIEGEL-Bestsellerliste erreicht hat. Damit war er ein paar Wochen oder sogar Monate lang im Gespräch. Das war sein persönlicher Hintergrund und vor diesem haben wir auch das [amerikanische] Material gelesen und gesichtet.

Aber es gab da immer Schwankungen; Brinkmann stand immer nur punktuell hundertprozentig hinter einer Sache. Er hat manches auch ganz schnell wieder verworfen, wie man ja weiß, und wie es auch meine Erfahrung mit ihm war. Und so war das auch mit den Bildern für ACID, aber das war nicht so dramatisch. Es war klar, dass die Bilder reinkommen. Aber wenn ich jetzt nochmal durch das Buch blättere, finde ich immer noch, dass darin mehr Bilder hätten sein könnten. Ich habe ja noch in Erinnerung, wie viel Material wir damals hatten.

„Das Gesamtbild einer einheitlichen Sensibilität"

Roberto Di Bella

Es gibt tatsächlich lange Textstrecken ohne jedes Bild, teilweise über zehn Seiten und mehr. Das Material im Buch sollte ja zugleich, wie du sagst, auch eine neue Haltung zur Literatur ausdrücken, „a new sensibility“, „eine neue Erlebnisweise“, wie es bei Susan Sontag heißt.2 Dazu gehören in ACID auch Cut-ups, Collagen, Fotografien und Comics; insgesamt sind es gut 70 Abbildungen verteilt auf rund 400 Seiten. Du fandest also, das war noch nicht genug visuelles Material, ja?

Ralf-Rainer Rygulla

Ich fand, das war nicht genug… ich meine, Brinkmann hat sich nicht gegen die Bilder an sich gewehrt, sondern er wurde unsicher. Wenn du sein Nachwort zu ACID liest, „Der Film in Worten“, dann merkst du, wie viele Konzessionen er wieder macht. Sein Text ist ja eigentlich ein Produkt der damaligen literarischen Diskussion, wie sie in Deutschland üblich war, wie sie im Feuilleton stattfand. Das Buch selbst ging natürlich darüber hinaus. Das wurde von manchen Kritikern in den Rezensionen auch so bemerkt. Du änderst dich ja nicht von heute auf morgen, nur weil du plötzlich kleine zerfledderte Magazine liest und dort verrückte Texte entdeckst.

Und ACID als Buch ist eigentlich diese „Little Mag“-Szene, mit den Zeitschriften in Kleinstauflagen. Das repräsentiert ACID. Es gab kein festes Buch, das uns als Vorlage diente, sondern eben nur diese Magazin-Szene, von der West Coast und vor allem der Ostküste. Da waren Bilder essenziell. Und diese „dirty speech“-Bewegung wurde dort auch sehr wichtig, um das obszöne Idiom hineinzubringen. Das ist für Amerika noch wichtiger gewesen, weil es in den sechziger Jahren noch prüder war als Deutschland. Und wenn dort eine Literaturzeitschrift FUCK YOU / a magazine of the arts hieß, dann war das schon eine revolutionäre Tat. Das alles wollten wir ja auch zeigen.

Roberto Di Bella

Das war also schon vorher ein Anstoß für dich, als du 1968 für deine Lyrikanthologie Fuck You (!) bei Melzer das Stichwort von Ed Sanders und seinem Magazin übernommen hast?

Ralf-Rainer Rygulla

Ja.

Abb. 9: FUCK YOU / a magazine of the arts (Nr. 4, August 1962). Hrsg. von Ed Sanders.
Abb. 10: FUCK YOU! Underground Poems / Untergrund Gedichte (Melzer 1968). Hrsg. von Ralf-Rainer Rygulla.


ROBERTO DI BELLA

Hat eigentlich Farbigkeit in der Diskussion und Planung zu ACID eine Rolle gespielt? Denn in diesen Materialien, überhaupt in dieser Zeit, spielt Farbe doch eine wichtige Rolle. War das jemals im Gespräch oder wurde das aus Kostengründen abgehakt?

Ralf-Rainer Rygulla

Die Magazinszene in den USA war natürlich nur schwarz-weiß. Das waren doch billigst hergestellte, hektographierte Heftchen. Da konnte man auch selber an der Maschine stehen und kurbeln und dann kamen Seiten raus. Das haben wir später noch imitiert, mit den Gummibäumen, die wir rausgebracht haben, also unserem eigenen Zeitschriftenprojekt [Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung, 1969–1970]. Nein, das war alles schwarz-weiß, Farbe spielte keine Rolle. Farbe spielte andererseits doch eine Rolle, weil ja Brinkmann letztlich schon ein arrivierter Autor war; er war ja gar nicht ‚Underground‘. Er ist ja schon von Bohrer und Reich-Ranicki gelobt worden, in den relevanten Feuilletons.

Reich-Ranicki hat ihn gut besprochen, aber Karl-Heinz Bohrers Reaktion auf Keiner weiß mehr war weit wichtiger. Seine Rezensionen haben eigentlich viel mehr von Brinkmanns Arbeiten, seinen Intentionen, seinen literarischen Zielen begriffen. In den Feuilletons war Brinkmann jedenfalls ein wichtiger neuer Autor, so wie Handke, so wie Thomas Bernhard, so wie Hubert Fichte. 3

Er selbst konnte es sich also schon mal leisten, seine Bilder auf, was weiß ich, farbigen Frauenbrüsten abzubilden. Solche Bücher gibt es doch auch von ihm. Die habe ich irgendwo noch immer auf dem Dachboden. Standphotos hieß eines davon, glaube ich. Da hat er mit Farbe gearbeitet, das waren aber seine eigenen Sachen, so Kunstbücher halt. Mit bildender Kunst hatten wir aber bei den Anthologien eigentlich nicht so viel am Hut.

Roberto Di Bella

Mir fallen hierzu trotzdem noch zwei andere Dinge ein. Zum einen denke ich an das Cover von Die Piloten und ich denke an die eigene Werbung des März Verlags, dessen Broschüren und Werbematerialien z. T. sehr farbig angelegt waren.

Ralf-Rainer Rygulla

März ist ein kommerzieller deutscher Verlag gewesen, so wie andere auch. Natürlich war Farbe da möglich, aber das eine hat für mich nichts mit dem anderen zu tun. Was den Umschlag für Die Piloten angeht, tja, das war eine Bastelarbeit. Um die fertig zu kriegen hat Brinkmann, glaube ich, zwei Wochen gebraucht. Ich habe da in der Tat manchmal etwas mitgeholfen. Da ging es darum, mit einer Nagelschere irgendwelche Köpfe oder Raketen oder Sprechblasen auszuschnipseln. Das war eine Arbeit, die der Kiepenheuer & Witsch Verlag übrigens überhaupt nicht mochte, aus Kostengründen. Die wollten das gar nicht, aber da hat er sich durchgesetzt.

Roberto Di Bella

Wie gesagt, deine ganz beiläufige Bemerkung zu eurer unterschiedlichen Einschätzung der Bildlichkeit in ACID löste bei mir den Gedanken aus, das man hierüber näher nachdenken sollte. Auch im Vergleich zu Silver Screen, eurer zweiten großen Anthologie, die ja nur wenige Monate später erscheint , im Dezember 1969.

Dort ist die Bildebene wiederum sehr reduziert. Es gibt nur rund ein Dutzend großformatige Schwarz-Weiß-Abbildungen, insbesondere Film-Stills und Porträts von Film- und Musikstars der 40er bis 60er Jahre (u. a. Clark Gable, Jean Harlow, Rita Hayworth, Marilyn Monroe, Jim Morrison, Elvis Presley). Dazu kommen nur noch die kleinen Bilder, mit denen er sein Vorwort durchsetzt. Entsprach dieses ‚strengere‘ Layout mehr Brinkmanns eigener Konzeption?

Abb. 11: Erstausgabe von Silver Screen (Kiepenheuer & Witsch 1969), Titelcover mit Filmstill aus dem Undergroundfilm Flaming Creatures (1963) von Jack Smith.
Abb. 12: Silver Screen (S. 302), Elvis Presley bei seinem legendären NBC TV Comeback Special (27. Juni 1968).


Ralf-Rainer Rygulla

Ja, aber schau mal, wir reden hier über ein Buch, das bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, also nicht im März Verlag. Es sollte also die etwas traditionelleren Pfade gehen und den ‚normalen‘ Leser erreichen und nicht nur den alternativ und an ‚counter culture‘ Interessierten. Silver Screen sollte eben auch so Leute wie Karl Krolow erreichen.

Roberto Di Bella

Der das Buch dann auch ausführlich besprochen hat.4

Ralf-Rainer Rygulla

Hat er? Na siehst du, das war der Plan. Silver Screen ist ja außerdem eine reine Lyrikanthologie. Natürlich hatten wir geplant, dass ich dabei wieder Co-Herausgeber bin. Es ist aber nur bei einer Danksagung geblieben, weil ich wieder an der Auswahl beteiligt war, praktisch jeden Text, jede Übersetzung mit überprüft, auch viel übersetzt habe. So ähnlich war Brinkmann ja auch an meiner zwei Jahre zuvor erschienenen Fuck You (!)-Anthologie beteiligt.

Nur war es so, dass er auch an Silver Screen als Projekt wieder so intensiv und so ausschließlich gearbeitet hat, dass ich irgendwann passen musste. Er hat gearbeitet, wenn er aufstand, und er hat gearbeitet, bis er ins Bett gegangen, ins Bett gefallen ist. Bis zu 14 Stunden oder länger. Das konnte ich nicht. Das wollte ich nicht. Ich hatte andere Dinge, die ich auch noch machen und erleben wollte. Und so hat das dann nicht mehr gepasst … zu seiner manischen Art zu arbeiten, durch diese Gabe, so arbeiten zu können.

Und deswegen ist er schließlich der alleinige Herausgeber. In dieser Zeit hatte er ja selber Sachen wie „Vanille“ und „Harakiri“ geschrieben. So heißen Langgedichte, in die er auch diese kleinen Schwarz-Weiß-Bildchen einbaut.

Roberto Di Bella

Hat er damals mit dem Fotografieren begonnen?

Ralf-Rainer Rygulla

Nein, das kam später. In der Zeit haben wir allerdings Super 8-Filme gemacht. Davon ist nicht so viel übriggeblieben. Weißt du eigentlich, ob in Köln noch Super 8-Filme gefunden wurden, ob die noch irgendwo eine Rolle gespielt haben?

Roberto Di Bella

Ja, das kann ich dir sagen. Die sind auch veröffentlicht worden. Und zwar hat Harald Bergmann für sein Filmprojekt Brinkmanns Zorn (2007) mit Maleen Brinkmann zusammengearbeitet und von ihr die Super 8-Filme bekommen. Es gibt dazu auch einen Director’s Cut mit vier DVDs …

Ralf-Rainer Rygulla

Ach ja, ich erinnere mich. Genau.

Roberto Di Bella

… und auf einer davon sind Brinkmanns Filme zusammengestellt.5

Abb. 13: Rolf Dieter Brinkmann: „Leck-Film”, s/w, Zeitraum 1967-70, ca. 5 Minuten, ohne Ton.
Darsteller: mutmaßlich Erich Haase alias Eric de Fürstenberg.


Ralf-Rainer Rygulla

Ja genau, so Partygeschichten, aus dem Zimmer in der Engelbertstraße. Ich habe übrigens angefangen, meine eigenen Super 8-Filme zu sichten. Ich kann mich nicht erinnern, ob Brinkmann dabei ist. Ich meine aber, er müsste in einem Film dabei sein. Da ging es ums Lecken … irgendwie mussten die Leute da irgendwelche komischen Sachen lecken.

Rolf Dieter Brinkmann

Klingt sehr nach Andy Warhol.

Ralf-Rainer Rygulla

Ja, das war die Zeit der Andy-Warhol-Filme, richtig! Chelsea Girls, 4 Stunden durchgesessen. Das funktionierte. Es war so neu, so unerwartet anders. Das hat man ausgehalten, heute nicht mehr vorstellbar. An Super 8-Projektoren ist ja übrigens inzwischen schwierig dranzukommen. Aber ich habe eine Schneidemaschine, mit der man sich die Filme auch anschauen kann.

Roberto Di Bella

Lieber Ralf-Rainer, ich danke dir! Das war sehr aufschlussreich.


Anmerkungen

1 Der österreichische Ingenieur Alexander Lissiansky (1904–1972) erfindet zunächst 1935 das Schallplatten-Aufnahmegerät „Registon“. 1939 wandert Lissiansky in die USA aus, wo er in Kooperation mit der Firma Mutoscope das Modell „Voice-O-Graph“ zum Patent anmeldet und 1941 in New York der Öffentlichkeit vorstellt. Diese münzbetriebenen Geräte – in Form und Größe einer Telefonzelle ähnlich – finden alsbald insbesondere in Bahnhöfen, Schallplattengeschäften oder Spielhallen Verwendung und bleiben bis in die 70er Jahre populär. Eine solche „recording booth“ haben vermutlich auch Brinkmann und Rygulla in der Victoria Station betreten. Nach beendeter Aufnahme wirft das Gerät nach wenigen Minuten die (einseitig bespielte) Vinyl-Schallplatte aus, für man zusätzlich passende Umschläge für den Postversand kaufen konnte, quasi eine frühe Form der Voicemail. Weitere Informationen auf voiceograph.com und jukebox-world.de.

2 Sontag formulierte anhand dieses Begriffs den ab Mitte der 1960er Jahre weit verbreiteten Eindruck, dass die Literatur in einem neuen Wettstreit der Künste ins Hintertreffen geraten sei. Siehe zuerst in einer Frauenzeitschrift: Susan Sontag: „Opinion, please. From New York“, in: Mademoiselle. For the smart young woman. April 1965, S. 58–60. Kurz darauf formuliert sie ihre Thesen ausführlich in dem Essay „One Culture and the New Sensibility [1965]“, in: Dies.: Against Interpretation and Other Essays. New York: Farrar, Straus and Giroux 1966, S. 293–304; Dies.: „Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise“, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Übers. von Mark W. Rien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 285–295. – Für die (bis zum italienischen Futurismus zurückreichende) Begriffsgeschichte und -rezeption siehe ausführlich Jörgen Schäfer und Georg Stanitzek: „Die Neue Sensibilität: Thesen“ und Roberto Di Bella: „‚Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich‘. Rolf Dieter Brinkmann und die Einübung einer neuen Sensibilität“, in: Jörgen Schäfer und Georg Stanitzek (Hg.): Neue Sensibilität: Vorschläge zu einem Kanon. München: edition text + kritik 2024 (= neoAVANTGARDEN, hg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek; 18), S. 7–50 bzw. S. 73–100.

3 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: „Übungsstücke eines Talents. Ein neuer Erzähler: Rolf Dieter Brinkmann, geboren 1940« [= Rez. zum Erzählband Die Umarmung], in: DIE ZEIT 19/1965 und ders.: Marcel Reich-Ranicki: „Außerordentlich (und) obszön“, in: DIE ZEIT 17/1968 [= Rez. zum Roman Keiner weiß mehr] sowie Karl Heinz Bohrer: „Neue panische Welt. Rolf Dieter Brinkmanns erster Roman“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage Bilder und Zeiten (4. Mai 1968) und ders.: „‚Dem Teufel folgt Beelzebub‘. Rolf Dieter Brinkmann, seine neuen Gedichte Die Piloten und amerikanische Romantizismen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. Oktober 1968). – Beide Besprechungen sind im F.A.Z.-Bibliotheksportal aufrufbar (z. B. via institutionelles Login der UB Siegen).

4 Vgl. „Karl Krolow über die Anthologie Silver Screen“ [Radiobeitrag]. Sendung: Ein Buch und eine Meinung, Süddeutscher Rundfunk, Redaktion Radio-Essay. Sendezeit: 8. Mai 1970, 9:45 Uhr.

5 Vgl. DVD 1, „Die Super 8-Filme 1967–70“ (88 min.). Harald Bergmann hat hierfür rund ein Viertel des vorhandenen Materials ausgewählt, neu geschnitten und die ursprünglichen Stummfilme mit einer eigens hierfür komponierten Musik unterlegt. – Mehr über das Filmprojekt erfahren


Weitere Quellenhinweise

Bergmann, Harald (2007): Brinkmanns Zorn (3 DVD). DVD 1: 1967–70. Die Super 8-Filme. Deutschland: Neue Visionen.

Brinkmann, Rolf Dieter (1968): Die Piloten. Neue Gedichte. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch.

Ders. (1968): Keiner weiß mehr. Roman. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch. – Englische Ausgabe: No One Knows More. Ins Englische übersetzt von Mark Kanak. Vorwort von Ralf-Rainer Rygulla, Nachwort von Mark Kanak. Mit Originalfotografien von Ulrike Pfeiffer. Schönebeck: Moloko Print 2023.

Ders. (1969a): Standphotos. 4 zweiteilige Farbätzungen von Karolus Lodenkämper. Duisburg: Guido Hildebrandt 1969.

Ders. und Ralf-Rainer Rygulla (Hg.) (1969b): ACID. Neue amerikanische Szene. Gesamtgestaltung mit Jörg Schröder. Nachwort von Rolf Dieter Brinkmann. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Katja Behrens, Peter Behrens, Rolf Dieter Brinkmann, Rolf Eckart John, Ralf-Rainer Rygulla, Carl Weissner u. a. m. Erstausgabe Frankfurt a. M.: März-Verlag 1969; Folgeausgaben 1974 (MÄRZ bei Zweitausendeins), 1984 (Rowohlt) und 2004 (Area Verlag).

Ders. (Hg.) (1969c): Frank O’Hara. Lunch Poems und andere Gedichte. Hg. und aus dem Amerikanischen übersetzt von Rolf Dieter Brinkmann. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969.

Ders. (Hg.) (1969d): Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Behrens, Rolf Dieter Brinkmann, Herbert Graf, Rolf Eckart John, Miriam Körner, Gerd Raeithel, Ralf-Rainer Rygulla und Carl Weissner. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969.

Ders. (Hg.) (1970): Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot. Gedichte, Prosa, Kollaborationen. Mit Notizen von Tom Clark. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Behrens, Rolf Dieter Brinkmann, Herbert Graf, Rolf Eckart John, Nils Lindquist und Ralf-Rainer Rygulla. Frankfurt a. M.: März-Verlag 1970.

Malanga, Gerard (1970): Selbstporträt eines Dichters. Aus dem Amerikanischen von Rolf Eckart John, Ralf-Rainer Rygulla u. a. Frankfurt a. M.: März Verlag.

Padgett, Ron (1973): Große Feuerbälle. Gedichte, Prosa, Bilder. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Amerikanischen von Rolf Eckart John, Ralf-Rainer Rygulla, Anselm Hollo und Josephine Clare. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973.

Pfeiffer, Ulrike (2020): Rolf Dieter Brinkmann. Engelbertstraße 65, vierter Stock Köln 1969. Originalfotografien. Nachwort von Friedrich Wolfram Heubach. München: belleville Verlag.

Rygulla, Ralf-Rainer (Hg.) (1967): Underground Poems. Letzte Amerikanische Lyrik. Englisch und Deutsch. Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ralf-Rainer Rygulla. Berlin: Oberbaumpresse.

Ders. (Hg.) (1968): FUCK YOU (!). Underground Poems/Untergrund Gedichte. Englisch und Deutsch. Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen, mit einem Nachwort von Ralf-Rainer Rygulla. Darmstadt: Melzer 1968. [Neuauflage 1980 als Fischer Taschenbuch; das Nachwort findet sich auch in: Texte zur Theorie des Pop. Hrsg. von Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke. Stuttgart: Reclam 2013, S. 103–109]

Sanders, Ed (Hg.) (1962–1965): Fuck You / a magazine of the arts (13 Ausgaben, online lesen).