Ritter, Burgen, Hofdamen – Kanonisierungsschleifen des populären Mittelalters in digitalen Spielen (2023)
Schon vor über 25 Jahren wurde die Omnipräsenz des Mittelalters in der Gegenwartskultur betont (Fuhrmann 1996). Ausgehend vom „Mittelalter-Boom“ (Buck 2020:515) der 1980er- und 1990er-Jahre, vorangetrieben etwa von den populären Romanen Umberto Ecos, Noah Gordons oder Ken Folletts, drang das Mittelalter als Thema in vielschichtiger Weise in die Populärkultur ein, sodass heute mehr denn je von einer Allgegenwart der Epoche gesprochen werden kann: von Mittelaltermärkten und Live-Action-Role-Play-Games (kurz: LARP), Stadtrundgängen in Plattenrüstungen, Festivals mit Met und Spanferkel, Medieval Rock als eigenständigem Musikgenre, bis hin zur ungebrochen populären Gattung des Mittelalter-Romans, dem Mittelalter-Film, der Mittelalter-Serie, dem Mittelalter-Spiel. Hinzu kommen all jene Fantasy-Produktionen, die sich eines neomediävalen, also mittelalterlich anmutenden Settings bedienen. Zuerst sei hier natürlich der Megaseller Game of Thrones (2011-2019) genannt, aber auch der 2022 veröffentlichte Spielfilm The Green Knight oder die jüngste Adaption des Tolkienschen Der-Herr-der-Ringe-Stoffs unter dem Namen The Rings of Power (seit 2022) (Specht 2022/Berking 2022).
Die Bandbreite der Inszenierung und Vergegenwärtigung gerade des Mittelalters ist also groß, so groß wie die kaum einer anderen historischen Epoche, und nirgendwo greifen die Wirkungsmechanismen gegenwärtiger Rezeption stärker in die jeweiligen Inszenierungen ein als hier (Buck 2020:513). Dieses Mittelalter ist heute ein frei wucherndes Rhizom aus Bildern, Vorstellungen und Fragmenten ohne erkennbaren Ausgangspunkt, das sich über der Epoche ausbreitet und mit jedem neuen Bestseller-Roman, jedem Kino-Kassenschlager und jedem vielgesehenen Ritterturnier neue Triebe schlägt (Hassemer 2013/14:71-76).
Was aber macht gerade diese immens populäre, medial inszenierte Omnipräsenz des Mittelalters mit unseren gegenwärtigen Vorstellungen der Vergangenheit? Ändert seine andauernde Popularität unsere Sicht auf das Mittelalter? Und gibt es Triebe des Rhizoms, die dicker und damit wirkmächtiger sind als andere?
Schauen wir in die Rezeptionsgeschichte des Mittelalters und seiner wissenschaftlichen wie populären Deutung, offenbaren sich schnell zwei Stränge der Wahrnehmung: ein positiver und ein negativer. Letzterer ist untrennbar mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verbunden, deren Vertreterinnen und Vertreter das Mittelalter in der Tradition der Renaissance als dunklen Fleck menschlicher Entwicklung und Zeit der Unmündigkeit, Knechtschaft und des Aberglaubens abtaten. Dem entgegen stand etwa die europäische Romantik, die ab dem 19. Jahrhundert eine Vorstellung vom Mittelalter als besserer Welt etablierte und es mit Attributen wie Lebenslust, Natürlichkeit, Spontanität und wahrer Einfachheit ausstattete. Welche Bewertung das Mittelalter hieran anschließend erfuhr, war maßgeblich abhängig von der Bewertung der eigenen Zeit, die den Vorstellungen vom Mittelalter als Referenzrahmen diente und es entweder zu einem Imaginations-, Sehnsuchts- oder Abgrenzungsort werden ließ (Oexle 1992:7-12).
Obwohl teilweise über 200 Jahre alt, wirken beide Stränge bis in die Gegenwart nach. Das Mittelalter ist auch heute noch gleichzeitig nah und fern, finster und romantisch, unzivilisiert und naturwüchsig, zügellos und unbeschwert, unfrei und geordnet – abhängig davon, wer es interpretiert, aus welchem Grund es interpretiert wird und welche Funktionen diese Interpretation erfüllt. Es ist eine räumlich weite, zeitlich offene und inhaltlich individuell wie kollektiv befüllbare „Wunschmaschine“ (Groebner 2008:9) für das jeweils Interessante, Relevante und dadurch auch Populäre.
Zwar verändern sich beide Stränge je nach Inszenierungsform in Nuancen (das Mittelalter des Romans fokussiert sich auf andere Aspekte als das Mittelalter des Fantasy-Films), die grundlegende Dualität der Mittelaltervorstellung bleibt in populären Produkten aber erhalten. Auch die populären Mittelalterbilder des 21. Jahrhunderts sind von Despotismus, Misogynie und Ungerechtigkeit ebenso geprägt wie von Abenteuerlichkeit, Heldinnen- und Heldentum sowie erfrischender Direktheit (Hassemer 2013/14: 274-282).
Auf diesen Pfaden der doppelseitigen Vergegenwärtigung des Mittelalters wandelt auch das vergleichsweise neue, aber umso populärere Medium des digitalen Spiels, wie der Titel Kingdom Come: Deliverance (2018) illustriert. Das Spiel inszeniert grob zusammengefasst die spätmittelalterliche Welt eines böhmischen Landstrichs südöstlich von Prag zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Aus den Augen des fiktiven Schmiedesohns Heinrich erleben die Spielenden den dynastischen Konflikt zwischen Wenzel IV. (1361-1419) und dessen Halbbruder Sigismund (1368-1437) um die böhmische und kaiserliche Krone in der Nachfolge Karls IV. (1316-1378).
Das Spiel orientiert sich in seinem Design eng an bereits bekannten und vielfach medial verbreiteten Bildern aus der Epoche, seien es nun die Architektur und Stadtfassade, die Kleidung der Bewohnerinnen und Bewohner oder die sozialen Interaktionsmöglichkeiten zwischen ihnen und den Spielenden. Wenn etwa eine Figur in Leinenkleidung über den ungepflasterten Marktplatz einer von Mauern umgebenen Stadt läuft und sich über das Mühsal des irdischen Lebens beklagt oder Mönche mit Tonsuren und in braunen Kutten mit gesenktem Blick lateinische Sentenzen murmelnd durch Klostergänge schleichen, transportiert Kingdom Come: Deliverance bereits popularisierte Bilder über die Epoche. Das Spiel schafft eine als authentisch wahrnehmbare historische Kulisse, weil sie vorhandenes, populäres Wissen aktiviert, das durch seine stete Inszenierung und Reinszenierung von Wiedererkennbarkeit zeugt (Runzheimer 2018).
In den ersten Stunden der Story steuern die Spielenden ihren Avatar Heinrich durch dessen Heimatdorf Skalitz, besuchen die örtliche Schenke, spielen Streiche, verkaufen Nägel, flirten mit der Müllerstochter und schmieden gemeinsam mit Heinrichs Vater ein Schwert. Nach diesen ersten Missionen jedoch wird das Dorf von einem Kumanen-Heer Sigismunds überfallen, angezündet und komplett zerstört. Heinrich, der in letzter Sekunde fliehen kann, muss dabei zusehen, wie seine Eltern von den feindlichen Soldaten getötet werden.
So beginnt die Heldenreise Heinrichs und der Spielenden: Sie treffen auf gute, einfache Christen wie auf Kleriker und andere Repräsentanten der Kirche, wobei das Spiel eine eindeutige Wertung zwischen beiden Gruppen vornimmt. Während Alltagsreligion dem ‚einfachen‘ Volk Halt und Trost in einer von Entbehrung geprägten Zeit bietet, charakterisiert das Spiel die Kirchenvertreter bis auf wenige Ausnahmen durch Machtgier, Missgunst und religiösen Fanatismus. Im böhmischen Adel hingegen finden die Spielenden ehrenhafte Verbündete, die ihre Heimat gegen den Thronprätendenten Sigismund verteidigen.
Dieser wiederum befehligt eine Armee aus Kumanen, die im Spiel neben Banditen und Vagabunden als primäre Feinde dienen und in dessen Verlauf immer wieder als ‚unzivilisiert‘, ‚Barbaren‘, ‚Teufel‘, ‚Heiden‘ oder ‚Hurensöhne‘ diffamiert werden, wodurch das Spiel auch eine orientalistische Lesart ermöglicht (Schwarz/Weber 2023:13-16). Letztlich können die Spielenden auf ihrer Reise verschiedenen Frauen den Hof machen, die ihre rechtlose Stellung in der virtuellen, männerdominierten Gesellschaft akzeptieren, manchmal gutheißen, in der Regel aber nicht hinterfragen. Mittelalter eben, gut und schlecht zugleich.
Die Bandbreite des Angebots, das Kingdom Come: Deliverance den Spielenden macht, orientiert sich also sowohl am positiven als auch negativen Trieb des Mittelalter-Rhizoms. Was aber machen die Spielenden selbst daraus? Befragt man Nutzerinnen und Nutzer zu ihren Erlebnissen mit Kingdom Come: Deliverance, berichten sie besonders von den populären Erkennungsmerkmalen eines romantischen Mittelalters, die im Spiel vorkommen: Imposante Burgen, idyllische Dörfer und gerüstete, edle Ritter. Bilder des Spiels, die auf den anderen Trieb des Mittelalters als grausame Zeit hinweisen, wie etwa korrupte Vertreter einer machthungrigen Kirche oder misogyne Gesellschaftsordnungen, treten – wenn sie überhaupt genannt werden – hinter der romantischen Version zurück.
So bezeichnet beispielsweise ein Interviewteilnehmer das Mittelalter in starkem Kontrast zur ‚Hochzivilisation‘ der Antike als ‚Kloake‘, als Zeit also, in der ein verlorengegangener Zivilisationsgrad wiedererlangt werden musste. Vor allem genoss er aber das entschleunigte Reisen durch eine schön anzuschauende Welt, das ihm das Spiel ermöglichte, und das Gefühl, dass einfacher manchmal besser ist. Ähnlich äußert sich ein anderer Teilnehmer, der soziale Ungleichheit und grenzenlose Adelsmacht als konstitutiv für die Epoche ansieht, den größeren Teil seiner Erzählung aber der aufmunternden Alltagsreligiosität der ‚einfachen‘ Bevölkerung und seiner spielerischen Rolle des edlen Ritters widmet.
In ihren Erzählungen lösen sich die Spielenden nicht von in anderen Medien etablierten Vorstellungen des Mittelalters als romantisierte oder dämonisierte Epoche, aber übernehmen auch nicht einfach das angebotene Bild des Spiels. Es findet keine Top-Down-Vermittlung statt, kein einfacher Kommunikationsfluss zwischen Sendern und Empfängern. Vielmehr rezipieren die Nutzenden das angebotene Mittelalter selektiv, um persönlich bereits bestehende oder noch gesuchte Mittelalterbilder zu finden. Im Fall von Kingdom Come: Deliverance ist es das Bild einer einfacheren, entschleunigten Welt, einem Sehnsuchtsort, der in Abgrenzung steht zur eigenen Lebensrealität in einer Welt, die als komplex, modern und hektisch empfunden wird.
Das digitale Spiel greift in seiner Inszenierung also beide Triebe des Mittelalter-Rhizoms auf. Rezipiert wird aber vornehmlich der schönere, der mit mehr Wohlfühlfaktor, der, mit dem sich die Spielenden eindeutiger identifizieren können. Das ‚neue‘ Medium des digitalen Spiels unterscheidet sich also in seiner bildlichen und erzählerischen Vergegenwärtigung des Mittelalters nicht so sehr von anderen populären Medien. Spiele-Produzentinnen und -Produzenten knüpfen an das Bild des Mittelalters als romantisierte und dämonisierte, als abschreckende oder ersehnte Zeit an, greifen es in ihren Produkten auf und remediatisieren und popularisieren es schließlich erneut. Die Nutzerinnen und Nutzer, die ebenso von populären Medien sozialisiert sind, erkennen dieses doppelte Bild und bestätigen ihre Vorannahmen über das Mittelalter – so muss es gewesen sein –, nehmen aber in ihre persönlichen Erinnerungen nur das Bild auf, das besser zu ihrer eigenen Lebenswelt und ihrer Interpretation der Gegenwart passt.
Bei ihrer nächsten populärkulturellen Begegnung mit der Epoche suchen und erwarten sie genau dieses Bild: Ritter, Burgen, Mythen, Helden, züchtige Hofdamen, Abenteuer, Romantik, das ganze ‚Mittelalter‘-Paket. Und schließlich greifen die Produzierenden beim nächsten Produkt des Mittelalterbooms genau diese Erwartungen auf, denn was erwartet wird, wird auch gekauft. Es bildet sich ein Feedbackloop zwischen produzierender und konsumierender Seite: Einem Angebot folgt eine Reaktion, folgt ein neues Angebot, das die Reaktion mitberücksichtigt.
Für das gegenwärtige populärkulturelle Verständnis über das Mittelalter bedeutet dies, dass ein bereits bestehender, zweigeteilter Kanon an Bildern, Vorstellungen, Interpretationen immer weiter popularisiert wird und zwischen verschiedenen Medien hin- und herwandert, dieser Kanon aber gleichzeitig mit jedem neuen Produkt, jeder neuen Inszenierung an die Reaktionen der Konsumentinnen und Konsumenten angepasst wird, um weiterhin populär zu bleiben. So entstehen Kanonisierungsschleifen des Populären, dessen Inhalte und Muster einer Ping-Pong-Bewegung gleich immer neu verhandelt und zur Disposition gestellt werden.
Es verwundert deshalb kaum, dass mit Pentiment (2022) jüngst ein Spiel über ein Mittelalter erschien, das zwar auch finster sein kann – so muss der grausame Mord an einem Baron aufgeklärt werden –, vor allem aber mit einer entschleunigten Wohlfühlatmosphäre und einem bunten, gefälligen Design daherkommt; das Mittelalter als Sehnsuchtsort, der zum Verweilen, Verschnaufen und sich Verlieren einlädt.
Dieser Blogbeitrag basiert auf den Kernideen des Aufsatzes: Tom Pinsker/Milan Weber: Auf (Zeit-)Reisen durch Böhmens Wälder – Zur Erinnerung an das populäre Mittelalter im digitalen Spiel Kingdom Come: Deliverance. In: Diagonal, H.43 zum Thema: Erinnerung, 2022, S. 189-214.
Literatur
Berking, Katharina: One Show to rule them all. Wie man die Popularität von ‚The Rings of Power‘ schon vor Serienstart auf die Spitze treibt. In: Blog des Sonderforschungsbereichs 1472 „Transformationen des Populären“ 2022, URL: https://sfb1472.uni-siegen.de/publikationen/one-show-to-rule-them-all (zuletzt abgerufen: 05.06.2023).
Buck, Thomas Martin: Das Mittelalter – ein „erkalteter Erinnerungsort“ der vormodernen europäischen Geschichte. In: Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktionen, hrsg. von Felix Hinz und Andreas Körber, Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht 2020, S. 513-532.
Fuhrmann, Horst: Überall ist Mittelalter: von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München: C.H. Beck 1996.
Groebner, Valentin: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München: C.H. Beck 2008.
Hassemer, Simon Maria: Das Mittelalter in der Populärkultur. Medien – Designs – Mytheme, Freiburg i.Br.: Inaugural-Dissertation 2013/14.
Oexle, Otto Gerhard: Das entzweite Mittelalter. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hrsg. von Gerd Althoff, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 7-29.
Runzheimer, Bernhard: Authentische Drachen und realistisches Mittelalter. Mittelalterrezeption im digitalen Spiel. In: literaturkritik.de, 07.08.2018, URL: https://literaturkritik.de/authentische-drachen-und-realistisches-mittelalter-mittelalterrezeption-im-digitalen-spiel,24737.html (zuletzt abgerufen: 23.03.2023).
Schwarz, Angela/Weber, Milan: New Perspectives on Old Pasts? Diversity in Popular Digital Games with Historical Settings. In: Arts 12,2 (2023). DOI: https://doi.org/10.3390/arts12020069.
Specht, Theresa: „Dürfen Ritter in der neomediävalen Fantasy scheitern? – The Green Knight. In: Blog des Sonderforschungsbereichs 1472 „Transformationen des Populären“ 2022, URL: https://sfb1472.uni-siegen.de/publikationen/duerfen-ritter-in-der-neomediaevalen-fantasy-scheitern (zuletzt abgerufen: 05.06.2023).