Tagungsbericht: Die Unwahrscheinlichkeit des Populären (2021)
Am 4. und 5. November 2021 hat die erste Jahrestagung des SFB 1472 "Transformationen des Populären" stattgefunden. Um den Pandemiebedingungen zu entsprechen, konnten wir leider keine große Publikumsveranstaltung durchführen. Aber immerhin haben wir mit den gebotenen Abstands- und Hygieneregeln einen Tag in Präsenz und einen zweiten Tag in Zoom gestalten können, so dass wir mit einigen großartigen Wissenschaftler:innen ins Gespräch kommen konnten. Unter dem Titel „Die Unwahrscheinlichkeit des Populären“ hatten wir Vortragsgäste eingeladen, die mit ihren Forschungen und Publikationen für uns offenen Fragen einer möglichen Theorie des Populären erarbeiten.
In seiner Einführung ins Tagungsthema brachte Niels Werber die Ambition einer solchen Theorie auf den Punkt: Sie müsse über die bloße Addition einschlägiger Phänomene und der Erörterung ihrer jeweiligen Umstände hinaus die Möglichkeitsbedingungen klären, unter denen Popularität ein besonderer und entscheidender ästhetischer, praktischer und diskursiver Gesichtspunkt wird. In der Populärkulturforschung gerate das Populäre durch einen allzu direkte Identifikation mit Genres wie Comic, Spielfilm und Unterhaltungsmusik leicht aus dem Blick. Die meisten Comics, Spielfilme und Popsongs verblieben tatsächlich unbeachtet im riesigen Archiv des Nichtpopulären und seien daher keineswegs populär. Auch wenn Genres populär sein können, ist doch das Populäre selbst kein Genre und kein Genreverbund. Die Luhmann-Anspielung des Tagungstitels aufgreifend betonte Niels Werber die Notwendigkeit einer „contra-phänomenologischen Anstrengung“ (Luhmann), um sich auf dem Feld des Populären nicht nur gut auszukennen, wie dies auch vielen nichtwissenschaftlichen Akteuren in erstaunlichem Umfang gelinge, sondern um auf diesem Feld mit aufschlussreichen Begriffen strukturelle Zusammenhänge jenseits der Einzelphänomene beobachten und beschreiben zu können.
Von der Materialseite her argumentierend verstärkte Kaspar Maase diese Position in seinem Vortrag über alltägliches ästhetisches Erleben: In eingehenden Reflexionen über die Dimensionen alltagsästhetischer Praktiken begründete er, warum das Populäre nicht auf das von vielen Geübte oder von vielen Geschätzte reduziert werden kann. Außerdem betonte er das mikrosoziale Aneignungsgeschehen und die diversifizierenden Aspekte, die aus einer zerstreuten Rezeption des ‚Blätterns‘ und der Bewertung nach Kriterien der ‚Lebensrelevanz‘ hervorgehen. Vor diesem Hintergrund beschrieb Kaspar Maase ein Ideal „sozialästhetischer Empathie“, durch das die Differenz zwischen reichweitenstark zirkulierenden Popularitätsgeltungen einerseits und alltagsästhetischen Aneignungspraktiken andererseits reflektiert werden kann. Überarbeiteter Text des Vortrags
Mit seinen Ausführungen zur Genealogie der Sport- und Universitätsrankings brachte Tobias Werron eine für das Populäre und seine Transformationen entscheidend wichtige Soziotechnologie zur Sprache: die regelmäßig wiederholte, öffentlich kommunizierte vergleichende Leistungsmessung. Dabei beruhe die Institutionalisierung der Leistungsmessung vor allem auf einem imaginierten Publikum des Rankings. Schon die Mutmaßung über dieses Publikum führe zu einer Transformation der Rankings und des Gerankten. Für die Popularitätsforschung und die Untersuchung der Transformationen des Populären ist dies ein zentraler Befund: Auch wenn Ranking-artige Verfahren die gesellschaftliche Beobachtung des Populären programmieren, werden imaginäre Publika entworfen, die die Methoden der Popularitätsmessung und das, was gemessen wird, transformieren.
Ein weiteres Rückkopplungsphänomen im Feld der Beachtungsmessung brachte Steffen Mau zur Sprache, indem er zeigte, wie digitale Scorings nicht nur metrisieren und abbilden, was schon ist, sondern mit ihren Annahmen über die Zukunft auch das Verhalten der Gescorten transformieren. Ungleichheiten werden verschärft und allererst erzeugt. So organisieren Scores den Umgang mit Anderen. Im Unterschied zu den Rankings im Sinne Tobias Werrons werden im Fall der Scorings zumeist keine Ergebnisse veröffentlicht. Dennoch darf man annehmen, dass schon die Spekulation über die eigene Position im Vergleich zu anderen eine scoringspezifische Motivation stiftet.
Einen kontrastiven Blick auf das Populäre vor seiner institutionellen Metrisierung ermöglichte Ethel Matala de Mazza mit ihrem Vortrag über Reisefeuilletons des 19. Jahrhunderts. Die Beachtung durch viele manifestiert sich vor ihrer Erfassung durch Vergleichsmetriken nicht zuletzt in der Erfahrung des Urbanen und die neue Mobilität durch den Eisenbahnverkehr. Ethel Matala demonstrierte an überaus prägnantem Material des Kladderadatsch und seines Spin-offs: Hoffmanns humoristische Reisebibliothek, wie die veränderten Produktions-, Markt- und Fernverkehrsbedingungen und die daraus resulierende politischen Spannungen die Gestalt und das Erscheinen der Reisefeuilletons beeinflussten und reflexiv werden ließen. Die Serialität der Reisebibliothek, die Typik ihrer Figuren, ihre Reise an ferne Orte, ihre unter dem Deckmantel des Humors ausgetragene politische Positionierung bieten vielfältige Inklusions- und Einstiegmöglichkeiten für die Leserïnnen und setzt durch diese Reflexivität auf Popularitätssteigerung.
Dieses strategische Moment des Populären, sich selbst gleichsam als Argument für die eigene Popularitätssteigerung einzusetzen, war auch ein zentraler Punkt im Vortrag von Klaus Nathaus, der am Beispiel der Unterhaltungsmusik nachvollzog, wie sich Gegenstände und Werkzeuge der Popularisierung im 20. Jahrhundert ändern und welche Rolle Musikcharts in der Repertoirepolitik der institutionellen Popularisierungsagenturen spielen. Zunächst unklare Popularitätsvermutungen werden im Zuge immer raffinierterer Messpraktiken zunehmend differenzierter, bleiben jedoch strukturell spekulativ und retrospektiv. Immer noch gilt, dass 90 % aller Popmusikproduktion ihre Produktionskosten nicht wieder einspielen.
Julika Griem behandelte in ihrem Vortrag ein Thema, das uns in unserer AG6 besonders beschäftigt, nämlich die aktuellen Popularitätsversprechen und Popularisierungsanforderungen in der Wissenschaftskommunikation. Anhand eindrücklicher Beispiele der medienästhetischen und -rhetorischen Spektakularisierung der Wissenschaft, ihrer Sportifizierung und spekulativen Ökonomisierung stellte Julika Griem die Diagnose eine tiefgreifenden Systemstörung im der Wertsphäre der Wissenschaft. Kulturelle Errungenschaften der Ausdifferenzierung einer genuin wissenschaftlichen Beobachtung und Selbstbezüglichkeit, die unvermeidlich mit einer Exklusivität wissenschaftlicher Kommunikation einhergeht, werden einem vordergründigen Ideal der Interessantheit, Allgemeinverständlichkeit und Partizipation unterworfen, das produktive Forschungen eher hindert als fördert. Darauf müsse die Wissenschaft mit einer Ideologiekritik der Wissenschaftskommunikation reagieren.
Die politische Dimension des Populären wurde auch von Ruth Wodak betont: In medienrhetorischen Analysen des Werbematerials der FPÖ und ihres ehemaligen Vorsitzenden Heinz-Christian Strache zeigte sie, wie in Kommunikationsstrategien des jüngeren autoritären Populismus rassistische und antisemitische Ressentiments mit popästhetischen Versatzstücken kombiniert werden und sich dadurch modernisieren.
Impulsreferate von Veronika Albrecht-Birkner, Sebastian Berlich, Allyn Heath, Thomas Hecken, Theresa Specht und Friederike Welter über die Querbezüge und Anschlussmöglichkeiten der Vorträge leiteten die Abschlussdiskussion der Tagung ein. Sie machten deutlich, dass quantifizierende Beachtungsmessungen des Populären für die Popularitätsforschung keine direkte epistemische Funktion haben können. Es kann auch nicht darum gehen, mit diesen Messungen in epistemische Konkurrenz treten und den Umfang und die Reichweite des Populären quantitativ ‚präziser‘ bestimmen zu wollen. Die quantifizierende Beachtungsmessung als Paradigma des Populären ist vielmehr in ihren kommunikativen und praktischen Vorbereitungen und Anschlüssen zu beobachten, um herauszufinden, welche qualitativen Geltungen auf diese Weise strukturell wahrscheinlich gemacht werden.
Das Ökonomische kommt dabei in ein einer anderen Hinsicht ins Spiel als dies sowohl im Marketing des Populären als auch in der Kritischen Theorie der Kulturindustrie reflektiert worden ist. Nicht mehr die Kulturwaren mit ihren semantischen und ästhetischen Potenzialen, sondern der Aspekt ihrer Populärität selbst wird Gegenstand einer „Bewirtschaftung des Populären“ (Kaspar Maase) – im Blick auf Rankings, die als serielle Vergleiche in den frühen 1980er Jahren institutionalisiert werden: als „Geschäft des Rankens“ (Tobias Werron). Andererseits gewinnt das Ökonomische durch seine Affinität zur Quantifizierung eine ganz eigene Popularität, etwa im privatwirtschaftlichen Jargon, mit dem Wissenschaftskommunikation sich zu popularisieren trachtet (Julika Griem).
Auch das Politische des Populären gewinnt durch seine Transformation eine neu zu bestimmende Funktion: Die Frage, welche ‚Entfaltungen‘ des Populären durch welche politischen Akteure in welchem Interesse wann und wie ermöglicht bzw. gezielt gefördert werden und welche Rolle dabei ökonomische Faktoren spielen, ist eine strukturell zentrale Frage, die im Blick auf die Transformationen des Populären generell im Blick zu behalten ist.
Die historische Dimension „um 1800“, die in unserem Forschungsprogramm für die Präfiguration quantifizierender Beachtungsmessung heuristisch eine entscheidende Rolle spielt, war in den Beiträgen und Gesprächen unserer Jahrestagung sehr präsent. Das zeigt die Relevanz dieser Dimension und ist erneut anregend im Blick auf die Frage danach, wie diese angemessen zu integrieren und zu bezeichnen ist. Eine offene Frage für uns: Lässt sich die Zeit „um 1800“ bis „um 1950“ tatsächlich als Präfigurationsraum einer Transformationsgeschichte des Populären zusammenfassen, die seither dominant auf quantifizierender Beachtungsmessung beruht?
In einem anderen Sinn ist uns eine historische Dimension des Themas deutlich geworden, nämlich als Teil von Rechtfertigungslogiken von Populärem oder nicht Populärem fungieren: durch gezielte oder auch weniger gezielte, aber strukturell offensichtliche Vermischungen von Vergangenheit und Gegenwart sowie als struktureller Aspekt v.a. der gezielten rhetorischen Funktionalisierung von popularisierter Geschichte.
Insgesamt hat die Tagung gezeigt, welche Brisanz in der Popularitätsforschung steckt, und deutlich vor Augen geführt, dass die wertneutrale Beschreibung der Transformationen des Populären, wie sie wissenschaftlich unabdingbar ist, genau dann eine Positionierungen impliziert, wenn die Gegenstände der Beobachtung in Form ihrer Popularität die Erfolgsbedingungen wissenschaftlicher Kommunikation negieren.
Jochen Venus (zusammen mit Veronika Albrecht-Birkner, Sebastian Berlich, Allyn Heath, Thomas Hecken, Theresa Specht, Friederike Welter und Niels Werber)