Laut Duden bedeutet Partizipation Teilhaben, Teilnehmen oder Beteiligtsein. Aber was bedeutet Teilhabe in verschiedenen Dimensionen des sozialen Lebens? Wie wird entschieden, wer woran teilnehmen darf? Wie ist das Beteiligtsein an Prozessen und Entscheidungen organisiert? Und wie geht man mit ungewollter Partizipation um? Von wem ist sie ungewollt und was bedeutet das für den umkämpften Gegenstand? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das Panel Research Challenges auf der Jahrestagung Partizipation als Herausforderung des Sonderforschungsbereichs 1472 „Transformationen des Populären“. Drei wissenschaftliche Mitarbeiter:innen befassen sich mit provozierender Partizipation in den Bereichen Religion, Literatur und Soziale Medien.

Von Geistern und Geächteten – Partizipation in der Religion

Mit einer Präsentation zu Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde“ als Auslöser theologischer und säkularer Abwehrreaktionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts eröffnet Stefanie Siedek-Strunk Teilprojekt C06 das Panel. Der professionell sehr breit aufgestellte Johann Heinrich Jung-Stilling, der hier vor allem in seiner Rolle als spiritualistischer Schriftsteller interessant ist, sorgte mit seinen 1795 erschienen Scenen aus dem Geisterreiche für Diskussion in der religiös durchdrungenen Gesellschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Bei den Scenen handelt es sich um fiktive Gespräche zwischen Engeln und einem Protagonisten in einem von Jung-Stilling erdachten Geisterreich, das als Zwischenstation für die Toten dient, bevor sie in den Himmel eingehen können. Das Werk konfrontierte die Menschen mit der Endlichkeit des Lebens, zeigte jedoch ein Leben nach dem Tod auf, das kein Fegefeuer und keine ewige Verdammnis kannte.

Viel mehr als die Scenen erhitzte Jung-Stillings 1808 veröffentlichte Theorie der Geisterkunde die Gemüter. Anders als in den Scenen, in denen eine imaginäre Reise in das Reich der Geister mit dem Ziel einer moralischen Belehrung beschrieben wird, wollte Jung-Stillung mit seiner Theorie das Reisen und Wirken der Geister aus der Zwischenwelt in die irdische Welt hinein beweisen. Damit begab er sich auf okkultistisch-pneumatologisches Terrain, was Teile der kirchlichen Obrigkeit ebenso wie Herausgeber und Autoren zahlreicher Periodika herausforderte. Das Resultat waren zahllose Verrisse in Zeitschriften, vernichtende Gutachten, öffentliche Distanzierungen und schließlich ein Verbot der Geisterkunde in Basel und in Württemberg, begründet zumeist dadurch, dass das Werk Irrtümer und Falschdarstellungen enthalte, nicht auf Vernunft basiere und Aberglauben fördere.

Worin besteht hier nun die Partizipation? Jung-Stilling hatte es sich herausgenommen, in Gebieten zu wildern, in denen die christlichen Institutionen und die der Aufklärung verpflichteten Medien die Deutungshoheit beanspruchten. Im Zentrum der Kritik standen unter anderem Jung-Stillings literarische Entwicklung eines Hades, die völlig konträr zur evangelischen Lehre stand und die in der Theorie der Geisterkunde enthaltenen (als wahr bewerteten) Spukgeschichten. Herausgefordert wurden kirchliche Instanzen und aufklärerisch wirkende Medien durch alternative Vorschläge eines Schriftstellers, der zu seiner Schaffenszeit weniger „nischig“ war, als es uns heute erscheinen mag. Jung-Stilling erfreute sich Anfang des 19. Jahrhunderts großer Popularität und hatte eine große Leser:innenschaft. Er präsentierte sich der Öffentlichkeit bewusst konservativ und lehnte unter anderem die Französische Revolution und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen ab. So provozierte er in voller Absicht die sich selbst als aufklärerisch erachtende Kirche und Presse, die es als ihre Aufgabe betrachteten, die Bevölkerung zur Vernunft zu erziehen. Jung-Stilling sei mittelalterlich und rückwärtsgewandt, hieß es aus diesen Reihen.

Jung-Stillings Provokationen erscheinen also nicht unbeabsichtigt. Er hatte ein gutes Gespür dafür, was sich verkaufte. Geschichten über Geister und Gespenster waren zu besagter Zeit ungemein beliebt, und die kirchliche Obrigkeit und Presse adelte ihn mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, indem sie sich zu einer Stellungnahme nötigen ließ. Jung-Stillings Popularität erlitt dadurch jedoch keinen Abbruch. Vielmehr trat das Gegenteil ein.

Von Kunst und Kitsch – Partizipation in der Literatur

Mit der zweiten Präsentation des Panels, vorgestellt von Allyn Heath Teilprojekt B01, gab es mit dem Thema Justification at Literature’s untere Grenze: Resistance and Accommodation in West-German Public Libraries einen historischen Sprung nach vorn in die Zeit nach der Gründung der BRD. Die Bibliotheken hatten von den Ministerien der Länder den Auftrag erhalten, einer potenziellen Gefährdung der Hochkultur durch den vom gemeinen Volk gelesenen (und geschriebenen) Schund und Kitsch entgegenzutreten. Die Menschen sollten in Bibliotheken gebildet werden. Man wollte ihnen durch literarische Hochkultur der Gemeinschaft dienliche Werte vermitteln. Ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, war die untere Grenze des Wertigen - der Bereich des Ausstellbaren in einer Bibliothek, anhand dessen darüber entschieden wurde, welche Werke gerade noch ins Regal kamen. Das funktionierte so lange, wie Bibliotheken für die breite Masse das Monopol auf den Zugang zu Büchern besaßen und ihre Kanonisierung auf diese Weise steuern konnten.

Mit wachsendem Angebot im Bereich des Schunds und sinkenden (vor allem finanziellen) Zugangsgrenzen für die lesende Masse wurde die Rechtfertigung der angebotenen Auswahl entsprechender Werke immer schwieriger. Nicht zuletzt waren (und sind) die Bibliotheken auch mit ideologischen Konflikten rund um ihr Selbstverständnis konfrontiert. Bibliotheken sollten für alle Menschen da sein, nicht nur für eine ausgewählte Gruppe, bestehend aus Konsument:innen der Hochwertliteratur.

Das stand dem Wunsch entgegen, Schund und Kitsch aus den Regalen zu verbannen. Denn die ‚einfache‘ Leser:in hat(te) andere Ansprüche an Literatur, ebenso wie andere (Zugangs-)Möglichkeiten. Wollten Bibliotheken ein notwendiges Maß an Popularität und an wiederkehrenden Lesenden halten, mussten sie sich ihrem Publikum anpassen, was zu einer sukzessiven Aufweichung der unteren Grenze führte. Heute sind Bibliotheken bedeutend breiter aufgestellt und haben ihr Angebot wesentlich – z.B. um Anime und Comics – erweitert, was zuvor keinen Platz in den Regalen gefunden hätte. Vollständig beseitigt wurde die untere Grenze aber nicht.

Die Partizipation findet so mittels eines Popularitätsdrucks statt. Der normative Anspruch der Bibliotheken, die Menschen zur literarischen Hochkultur zu erziehen, wird durch die Konkurrenz durch andere Medien aufgeweicht. Denn um eine Existenzberechtigung zu haben, sind Bibliotheken auf Popularität angewiesen. So gelingt es dem Schund, sich zunehmend in einen ursprünglich von der Hochkultur dominierten Bereich zu schieben. Mit dem Aufweichen der unteren Grenze in der Buchauswahl verblasst zugleich die scharfe Trennlinie zwischen Kitsch und Hochkultur.

Von Twitter und Täuschung – Partizipation in den Sozialen Medien

Von analogem Text wechselte die Perspektive mit der dritten Präsentation des Panels zum Digitalem. Lena Teigeler Teilprojekt C01 stellte das Thema Ghost-Twitterer, Zombie-Accounts und Astroturfing. Zur Entwicklung eines Diskurses um Twitter-Bots in der Social-Media-Forschung vor: "It’s not a bug, it‘s a feature." In der Anfangszeit von Twitter traf dieser Satz auf Bots zu. Über die Zeit hinweg hat sich (nicht nur) im Forschungsdiskurs die Ansicht darüber, was unter einem Bot genau zu verstehen und wie er zu bewerten ist, stark gewandelt. Zu Beginn bezeichnete der Begriff in erster Linie autonom agierende (Schad-)Software, nicht aber einen Account an sich. In Abgrenzung dazu wurden Accounts, die nicht von einer eindeutig identifizierbaren Person betrieben wurden, Zombie-Accounts genannt. Personen, die nicht ihren eigenen Account betreuten bzw. nicht unter der eigenen Identität twitterten, wurden als Ghost-Twitterer bezeichnet.

Zunehmender Spam auf Twitter änderte die Einstellung zu Bots und mit ihr das, was man als Bot bezeichnete. Nun gab es Bot-Accounts, die hauptsächlich an der Verbreitung von Spam beteiligen, anstatt „anständig“ zu twittern. Bots stehen „legitimen“ Accounts gegenüber, wobei der Diskurs, was legitime Nutzung eines Accounts sei, genauso alt ist wie Twitter selbst. In den vergangenen Jahren wurde Spam zunehmend für politische Themen eingespannt. Etwa durch künstliches Pushen von Hashtags entsteht ein (Shit-)Storm im digitalen Wasserglas, der eine Popularität vermittelt, die ein bestimmtes Thema überhaupt nicht hat. Diese Bot-getriebene Beeinflussung politischer Diskurse bezeichnet man – nach dem amerikanischen Kunstrasenhersteller AstroTurf – als AstroTurfing. Es entsteht der Eindruck einer Graswurzelbewegung, die aber in Wahrheit nicht aus der Basis der Bevölkerung hervorgeht, sondern von Unternehmen, Politiker:innen oder anderen Institutionen inszeniert wird.

Spam auf Facebook

Heute bezeichnet man mit Bots unter anderem solche Accounts, die daran beteiligt sind, mit bestimmten Praktiken einem Eindruck von falschem Konsens zu erzeugen. Aus diesem Grund werden sie im öffentlichen Diskurs und in Teilen der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen als Bedrohung angesehen. Allerdings fehlt es dem Diskurs nicht selten an begrifflicher Klarheit, denn Bots werden allzu oft in einem Atemzug mit Klickfarmen und Troll-Armeen genannt, deren Praktiken vielleicht ähnlich, aber nicht gleich sind. Dabei ziehen sich die Plattformen aus der Affäre und der Verantwortung. Bots gelten als Bedrohung „von außen“, die das sonst so intakte Habitat des demokratischen Diskurses namens Twitter oder Facebook angreifen.

In jüngerer Zeit gab es vermehrt Kritik am Fokus auf Bots in der Forschung zur Manipulation von Konsens und Popularität auf Social Media-Plattformen. Demnach verspricht etwa der Begriff AstroTurfing neben automatisierten Accounts auch andere Praktiken zu adressieren. Dadurch werde das Problem jedoch erneut außerhalb der Plattformen verortet und weiter verhandelt, welche Praktiken der gezielten Beeinflussung von Popularitätsvermessung der Plattformen legitim sind – denn AstroTurfer nutzen lediglich die Funktionalitäten, die die Plattformen allen Nutzenden bieten. Am Beispiel von Bots wird ersichtlich, wie die Debatte um unerwünschte Partizipation in Sozialen Medien – insbesondere auf Twitter – geführt wird und was sich seit dem Aufkommen von Social-Media-Plattformen in dieser Debatte geändert hat. Wie viel haben die Plattformen selbst damit zu tun? Stehen sie in der Verantwortung oder sind sie nur stille Unbeteiligte?


Analysiert wurden auf dem Panel also drei unterschiedliche Fälle von Partizipation: Einmal die Partizipation eines Einzelnen an den von etablierten Institutionen beherrschten Deutungshoheiten. Dann eine partizipierende Masse, die (unbewusst) den Popularitätsdruck einer Institution nutzt, um sie nach ihren Wünschen zu verändern. Und schließlich die Partizipation der Unidentifizierbaren, die in einen natürlich erscheinenden Diskurs eindringen und ihn vermeintlich manipulieren. Allen Fällen gemeinsam ist, dass zuvor Ausgeschlossene – ob intendiert oder nicht – an Praktiken teilhaben, die ihnen eigentlich verwehrt sein sollten, und diese sogar beeinflussen oder verändern.