Pop heute III. Eine Frage des Modus (2023)

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  • Moritz Baßler

Pop heute. Diesem Thema widmet sich die Jubiläumsveranstaltung der "Pop-Zeitschrift", die am 24. Mai im Museum Ludwig in Köln stattfinden wird. Das Programm findet man hier. Im Vorfeld haben sich die Gäste in kurzen Essays Gedanken zur Frage "Was ist Pop heute" gemacht. Zu den anderen Essays findet man hier: Pop heute I, Pop heute II und Pop IV.

Nachdem sich die Produktion von Pop im Sinne glänzender Oberflächenkunst im Wesentlichen nach Asien verlagert hat, bleibt Pop in der hiesigen Kulturlandschaft, so meine These, vor allem als Modus interessant.

„Wer es nicht permanent schafft, gleichzeitig Ironie, Selbsthass, Nostalgie, Affirmation und Konterrevolution in sich selbst auszuhalten, ist ein Hurensohn, der die Schichtungsverhältnisse der Gegenwart nicht verstanden hat“ (Groß 2018, S. 307), schreibt Joshua Groß, Autor pop-affiner Gegenwartsromane wie Flexen in Miami (2020) und Prana Extrem (2022). Modal werden diese Schichtungsverhältnisse dadurch, dass sie die Semantik jeder einzelnen Setzung über die mitgegebenen Alternativen bestimmen, was heißt: zugleich definieren und relativieren.

Gleichzeitig aushalten bedeutet, dass die Selektion in diesem Fall, anders als in der klassischen strukturalistischen Paradigmatik, die jeweils nicht aktualisierten Möglichkeiten nicht in die Latenz des Codes verweist. Stattdessen müssen sie als potenziell simultan präsente in der Lektüre ebenfalls aktualisiert werden. Auch im Netz stehen die alternativen paradigmatischen Möglichkeiten jederzeit nebengeordnet zur Verfügung, und zwar materialiter. Sie könnten nicht nur ebenso gut sein, sie sind es; und zwar deshalb, weil das Angebot, das sie machen, von anderen Stilgemeinschaften als der meinen (oder auch von mir zu einem anderen Zeitpunkt) ebenfalls nachgefragt wird. Selegiere ich also etwas Bestimmtes, dann nicht aufgrund seines höheren Wahrheitswertes, sondern aufgrund seiner höheren Attraktivität. Der beschriebene Modus ist demnach die heutige, postdigitale Fassung der berühmten Anführungszeichen, in denen Pop (und schon Camp) seine Setzungen tätigt. Sie definiert den Pop-Text in seiner Modalität sowie, weiter gefasst, in seiner Ästhetik.

Es ist dieser paradigmatische Modus, der Pop derzeit von dumpferen Spielarten eines Populären Realismus unterscheidet. Dabei muss sich die auszuhaltende Ambiguität keineswegs nur auf die Sprechinstanz beziehen, in mehr oder weniger komplexer Erfüllung des Pop-Grundgesetzes nach Diederichsen, laut dem es „konstitutiv für alle Pop-Musik [ist], dass in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht (Diederichsen 2014, S. XXIV).“ In Prana Extrem wird z.B. zugleich die Klimakrise verhandelt und das SUV-Fahren gefeiert.

Allerdings kommt der Autorinstanz besondere Bedeutung zu aufgrund des generellen autofiktionalen Anspruchs, der von Gegenwartsliteratur und anderen -künsten derzeit erhoben bzw. erwartet wird. Es ist bezeichnend, dass dieser autofiktionale Trend derzeit geradezu in Opposition zu Pop valorisiert wird, als ernst/diskursiv/engagiert im Gegensatz zu ironisch/spielerisch/privilegiert. Dabei hat Pop ja fast immer autofiktionale Züge, nur bleiben diese eben in besagten modalen Anführungszeichen, so auch in den postironischen Autofiktionen seit Rainald Goetz’ Stirnschnitt (z.B. Christian Kracht: Eurotrash, 2021), während stumpfere Varianten die Schichtungsverhältnisse im Sinne einer Vereindeutigung ‚realistisch‘ verdrängen (z.B. Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse, 2021).

Wo Pop seine Setzungen in einem Raum gleich gültiger Möglichkeiten tätigt und als Teil desselben im gleichen Zug immer schon relativiert, praktiziert – ich sage mal: – Non-Pop „die empörte ‚Vorführung’ der Anrechte des Realen auf die Sprache (Barthes 2010, S. 308)“ (‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘ bzw. ‚Das muss endlich eine Stimme bekommen‘). Ein Beispiel liefert die Rezeption des Ballermann-Hits Layla (2022), die Johannes Schneider beobachtet hat. Vor der Inkriminierung als frauenfeindlich und der vermeintlichen Cancelung sei diese „durchaus ironisch“ erfolgt, „mit einem feinen Bewusstsein dafür, dass man hier die unterste Schublade aufzieht, auch um sich dabei als lächerlich verrenkte Figur selbst beobachten zu können.“

Nach der Skandalisierung des Songs dagegen „verschwand bei Feiernden im ganzen Land die selbstironische Leichtigkeit“ und wich einem „bedrohliche[n] Trotz“: „Layla wurde zur Freiheitshymne derer, die sich in größtmöglicher Freiheit die Gefangenschaft herbeireden lassen. Wie laut es dann in den Zelten wurde, jedes der unzähligen Male, die das vermeintlich verbotene Lied erklang, das hatte schon etwas Unheimliches, weil Aufgehetztes (Schneider 2023, S. 216).“ Ersteres ist Pop, letzteres nicht; und zwar in genau dem Sinne nicht, in dem schon 1974 ein Schlager wie Tina Yorks Wir lassen uns das Singen nicht verbieten kein Pop war.

Wo eine Politisierung im Sinne einer solchen Desambiguisierung wirkt, steht sie, so meine ich, Pop auch heute noch tendenziell entgegen. Umgekehrt ließe sich gerade im Pop-Modus, wenn man ihn mit Groß als Übung im Aushalten der komplexen Schichtungsverhältnisse der Post-Postmoderne oder auch als Gegenprogramm zu jeder Behauptung von Alternativlosigkeit versteht, ein Politisches erkennen. Zumal umgekehrt „dem Grollen“ der Empörten und Dauergekränkten, von denen derzeit eine Bedrohung demokratischer Strukturen ausgeht, „strukturell eine Skepsis gegenüber Ambiguitäten innewohnt, greifen diese doch die Eindeutigkeit der Schuldzuweisung und damit die eigene Selbstbehauptung an (Amlinger/Nachtwey 2022, S. 141).“

Die Unterstellung, der komplexere Pop-Modus sei nur etwas für irgendwie Privilegierte, die sonst keine Probleme haben, ist dabei klar zurückzuweisen: Wer Rap oder Metal hört, Netflix oder TikTok guckt, sich an Memes freut etc., ist offenkundig dazu in der Lage, Spielarten dieses Modus zu aktualisieren. Einen reflektierten Umgang mit postdigitalen Zeichen, ja der Warenform selbst kann ich mir eigentlich gar nicht anders denken. „Alles ist Pop!“, wie es das Fanzine 59to1 schon Anfang der 1980er formulierte, „und der Rest macht uns auch sturzbetroffen (Diener/Klink 1985).“

Literatur

Amlinger, Carolin/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin ²2022.

Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957]. Berlin 2010.

Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014.

Diener, Thomas/Dieter Klink (Hg.): Alles ist Pop! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen. München 1985.

Groß, Joshua: Die Zauberberg-Bubble. In: J.G., Johannes Hertwig und Andy Kassier (Hg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Fürth 2018, S. 300-309.

Schneider, Johannes: Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt. In: Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hg.): Canceln. Ein notwendiger Streit. München 2023, S. 211-229.