Pop heute IV. Pop ist alltäg­lich (2023)

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  • Sonja Eismann

Pop heute. Diesem Thema widmet sich die Jubiläumsveranstaltung der "Pop-Zeitschrift", die am 24. Mai im Museum Ludwig in Köln stattfinden wird. Das Programm findet man hier. Im Vorfeld haben sich die Gäste in kurzen Essays Gedanken zur Frage "Was ist Pop heute" gemacht. Die anderen Essays findet man hier: Pop heute I, Pop heute II und Pop heute III.

Wenn ich nach der Bedeutung von Pop heute gefragt werde, antworte ich gerne mit einer Anekdote. In einem Uniseminar in den 2010er Jahren im Bereich der Gender Studies, in dem es um feministische Bewegungen ging, unter anderem auch die Riot Grrrls, wollte sich einer Studentin das Konzept „Popkultur“ einfach nicht erschließen. Was das denn sei, fragte sie mich. Ich stockte zunächst leicht überfordert, einen so komplexen Begriff in wenige Sätze zu fassen, fast so, als hätte mich jemand gefragt, was „Menschlichkeit“ oder „Leben“ bedeute. Ich hantierte in meiner Erklärung stockend mit verschiedenen Genres, mit Stilen, mit Performancebegriffen, Fantum und Affekten, was die Studentin veranlasste, mir mit folgender Formel zu begegnen: „Also ist Popkultur eine Epoche?“

In meiner bis heute andauernden Verblüffung über diese Einschätzung erkläre ich mir ihre zeitliche Begrenzung von Popkultur dadurch, dass sie schlicht nicht sehen konnte, was sie umgab und in was für einem Umfeld sie sich tagtäglich quasi immersiv bewegte. Dadurch, dass Pop ein alltagsstrukturierendes Prinzip geworden ist, das nicht mehr in Opposition zu – ja, zu was eigentlich? – steht, ist er nicht mehr als distinkte Praxis erkennbar. Pop ist das Allgemeine geworden, nicht mehr das Besondere, weder subversiv noch affirmativ. In den letzten Jahrzehnten sind die Trennlinien zwischen einer vermeintlich legitimen Hochkultur und einer illegitimen Popkultur erodiert – nachdem das, was anderswo in vielen Fällen als Middle Brow oder Midcult definiert wurde, sich hierzulande als Popliteratur im Feuilleton etablierte. Nacheinander wurden der Papst und die Börse als „Pop“ proklamiert, und popspezifische Curricula und Studiengänge wurden an Universitäten installiert.

Als Pop gilt für junge Menschen heute zuweilen das, wovon ihre Eltern ihnen begeistert erzählen und was sie in der Schule auswendig lernen müssen. Sie sind es gewohnt, anders als Boomer und Gen-Xer innerhalb ideologischer Staatsapparate oder Lohnarbeitszusammenhänge „poppig“ adressiert zu werden. Pop ist daher nicht mehr das begehrenswerte „Andere des Systems“, sondern einfach eine tägliche Gegebenheit, die nicht hinterfragt wird und mal mehr, mal wenig attraktiv erscheint. Pop scheint einfach immer da zu sein, ohne dass er als solcher benannt wird: Turnschuhe sind Pop, TikTok-Videos sind Pop, Games und Apps sind Pop, Getränke, Make-up und Einrichtungsstile sind Pop. Und noch viel mehr. Auch Musik ist Pop. „Den Leuten gefällt alles, was in den Charts ist“, sagt meine 13-jährige Tochter, manche hören auch zusätzlich Hip-Hop, Deutschrap oder Schlager.

Alben, Genres oder auch Stilepochen spielen keine oder kaum noch eine Rolle. Kate Bushs „Running Up That Hill“, das infolge seiner Verwendung in der Serie „Stranger Things“ fast 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wieder chartete, könnte tatsächlich jünger sein als Harry Styles‘ letztjähriger Megahit „As It Was“. Die neue Indie-Supergroup boygenius, deren queere Weiblichkeit im Jahr 2023 keine Schlagzeile mehr wert ist, kann sich auf der ersten EP 2018 als Crosby, Stills and Nash anno 1968 inszenieren, und auf dem „Rolling Stones“-Cover zum ersten Album wie Nirvana im Januar 1994. Keine der drei Musikerinnen war zu dem Zeitpunkt geboren.

Es ist weniger Retromania, die zu solchen Referenzen führt, sondern eher das Verständnis von Pop als überzeitliches und spezifischen Genres enthobenes Prinzip, aus dessen Präsenzbibliothek (statt Archiv) es sich dank Internet und Streaming konstant bedienen lässt. Daher erstaunt es nicht, dass Pop sowohl majoritär als auch minoritär sein kann, reaktionär wie auch progressiv: Das ikonische Bild von Beyoncé vor den Leuchtlettern „FEMINIST“ bei den MTV Video Music Awards im Jahr 2014 hat maßgeblich mit dazu beigetragen, einen weltweiten Imagewandel des ungeliebten Terminus zu begleiten, ähnlich wie auch Werbekampagnen wie die von Nike mit Colin Kaepernick zu Antirassismus und Inklusion einen großen Schritt zu einem Diversity Capitalism bedeutet haben.

In diesem Kontext erklärt sich auch, wie globaler Pop, der bisher von der Dominanz anglo-amerikanischer Artists geprägt war, tatsächlich globaler wurde. Dass ein Superstar wie Rosalía auf Spanisch statt auf Englisch singt, wundert heute niemanden mehr. Denn wenn Pop überall existiert und überall verfügbar ist, findet er auch überall statt und wird überall wahrgenommen. Trotz dieser – aus meiner Sicht – erdrückenden Beweislage für die Überzeitlichkeit und Omnipräsenz von Pop möchte ich am Ende noch einmal auf die eingangs zitierte Anekdote eingehen. Die Popforschung beschäftigt sich viel mit den Anfängen von Pop, doch, was, wenn Pop wirklich nur eine Epoche wäre? Wann merken wir, wo und wann Pop aufhört – und was kommt danach?