Pop heute I. Noti­zen zu Pop-Art, Popstar, Popmu­sik und Popkul­tur (2023)

Pop heute. Diesem Thema widmet sich die Jubiläumsveranstaltung der "Pop-Zeitschrift", die am 24. Mai im Museum Ludwig in Köln stattfinden wird. Das Programm findet man hier. Im Vorfeld haben sich die Gäste in kurzen Essays Gedanken zur Frage "Was ist Pop heute" gemacht. Den Anfang macht Thomas Hecken. Zu den anderen Essays findet man hier: Pop heute II, Pop heute III und Pop IV.

Die besondere Bedeutung von Pop für die Freizeit und den Lebensstil vieler Menschen dürfte unbestritten feststehen. Selbst wer nicht der Meinung sein sollte, dass Nicki Minaj, Tommy Jeans, Kristen Stewart, TikTok-Tänze, Mode-Influencerinnen, Metal-Festivals, H&M-Werbung den Höhepunkt moderner Zivilisation darstellen, wird akzeptieren müssen, dass es sich insgesamt keineswegs um eine vergängliche Erscheinung handelt.

Trotz dieser seit Jahrzehnten offenkundigen Tatsache ist das Reden über Pop oftmals blass oder bemüht locker. Meistens geht es zudem nicht über Wertaussagen oder Rückgriffe auf ältere Folk- und Massenkulturüberzeugungen hinaus. Die Frage nach der heutigen Bedeutung der Popkultur erfordert darum eine etwas längere Antwort, nicht nur, weil es recht unterschiedliche Bereiche und Ansätze gibt: Pop-Art, Popstar, Popmusik, Popkultur, Pop als Subversion, Pop als moderne Kulturindustrie etc.

Einzeln betrachtet und knapp bilanziert:

Pop-Art. Aktuelle Artefakte, die in Galerien zu sehen und zu kaufen sind, werden kaum oder gar nicht mehr von den Ausstellern und Rezensenten als Werke der Pop-Art klassifiziert. Pop-Art ist zu einer historischen Kategorie geworden, die bloß bei Retrospektiven oder Auktionen von Werken aus den 1960er und beginnenden 1970er Jahren zum Einsatz kommt. Dies liegt nicht daran, dass die Grenze zwischen ‚high‘ und ‚low‘ gefallen ist. Im Gegenteil, die Galerien-Kunst, von der Teile auch (später) in Museen vertreten sind, beruht streng auf solch einer Trennung. Auch wenn sie nicht mehr so stark mit einem Werturteil zum Ausdruck gebracht wird, das strikt ‚populäre‘ und ‚hohe‘ Kunst voneinander trennt, sorgt bereits die wichtige Unterscheidung zwischen Unikaten und massenhaft reproduzierten Artefakten für diese Trennung.

Popmusik. Verwendet man ‚Popmusik‘ nicht als Oberbegriff, der sehr viele Arten moderner ‚populärer Musik‘ umfasst, sondern markiert mit ‚Popmusik‘ einen Unterschied zu Rock, Soul und Hip-Hop, sieht man rasch, dass solche Popmusik in der Gegenwart floriert. Sie profitiert nicht nur von einer wachsenden Anerkennung, die sich dem gehobenen Status von früher als ‚weiblich‘ und ‚oberflächlich‘ eingestuften Werten sowie von queeren Szenen verdankt. Sie profitiert auch von dem Umstand, dass sie sich stets eine gewisse Neuheit erhält, weil sie technologische Innovationen (etwa Autotune) rasch und deutlich hörbar nutzt und auf diese Weise auch mühelos einzelne Elemente (etwa Soul-Rhythmen und Rap) anderer Genres einbeziehen kann.

Popstar. Soll mit ‚Popstar‘ etwas anderes verbunden werden als der traditionelle Verweis auf Individuen, die auf charismatische Weise eine große Masse in ihren Bann ziehen, liegt es nahe, einen anderen Modus herauszustellen. Dieser Modus besteht darin, das Publikum auf eine Weise an sich zu binden, die nicht in Ausbildungsstätten und Akademien gelehrt und erlernt wird. Diese Art von Popstartum besitzt auch und gerade in der Gegenwart eine große Bedeutung – bei Stars, die nicht mehr nur neben ihrer Tätigkeit als z.B. Schauspieler auch mitunter moderieren, singen, Homestorys anfertigen lassen, sondern deren Beruf genau darin besteht, keinen zu haben. Bekanntheit erlangen solche Social-Media-Stars durch die Präsentation von (großen) Teilen ihres Lebens – eines öffentlich gemachten Lebens bzw. einer Reihe von Handlungen, die denen ähneln, die bei anderen zur Freizeit und dem Intimbereich gehören.

Popkultur. Soll wiederum unter ‚Popkultur‘ nicht einfach die Addition oder Relation von Pop-Art, Popmusik, Popstars verstanden werden, braucht es zusätzliche Angaben. Blickt man auf die Tradition der Rede über Pop seit Mitte der 1950er Jahre, ist etwa folgende Konstellation denkbar, bei der ‚Popkultur‘ aus sechs Komponenten besteht (die folgenden sechs Punkte sind diesem Aufsatz entnommen): Oberflächlichkeit (1), Funktionalität (2), Konsumismus (3), Äußerlichkeit (4), Künstlichkeit (5), Stilverbund (6).

Mit dem ersten Punkt, Oberflächlichkeit, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Pop sich beim Design von der reinen Orientierung an technischen Zwecken distanziert und in diesem Zusammenhang die Oberflächen nicht nur im Sinne von aerodynamischen, ergonomischen etc. Zielen bearbeitet (oder im Sinne der Materialgüte weitgehend unbearbeitet lässt), sondern sie mit Zeichen, Ornamenten, Farben ganz oder teilweise bedeckt. Das setzt sich auch fort bei planen Gegenständen, z.B. menschlicher Haut, Verpackungspapier, T-Shirts, Websites, die mit Grafiken, Slogans, Tattoos etc. geschmückt oder für andere Funktionen hergerichtet werden.

Popfunktionalität (der zweite Punkt) liegt darin, für Belebung zu sorgen, angenehm zu erregen, den Körper vorübergehend intensiv in Bewegung zu bringen, Attraktivität zu erhöhen und eine nette, heitere Stimmung oder eine coole Haltung zu ermöglichen oder auszulösen. Nicht dazu gehört z.B. die Funktion nachhaltiger Bewusstseinsveränderung oder der Versuch, Kunst und Leben, Freizeit und Arbeit vollständig verschmelzen zu lassen (hierfür sind andere Begriffe reserviert, etwa ›Avantgarde‹ oder ›Underground‹). Verbunden mit der angestrebten Popfunktionalität ist häufig eine Abneigung gegen staatliche Institutionen (von der Schule bis zur Verwaltung) und gegen privatwirtschaftliche Organisationen, die als langweilig abgetan werden; zu einer ausgeweiteten politischen Kritik an ihnen oder gar dem Versuch, sie tiefgreifend zu verändern, führt dies aber nicht.

Mit – drittens – Konsumismus ist gemeint, dass es innerhalb der Popkultur als wichtig angesehen wird, sich berieseln, zerstreuen, unterhalten zu lassen. Aufrufe zum aktiven Leben, die über die Forderung, einzuschalten, mitzusingen, zu tanzen, etwas anzuklicken etc. hinausgehen, sind darum keine Popmaximen.

Beim vierten Punkt, Äußerlichkeit, kommt das Oberflächliche wieder ins Spiel, nun aber in seiner metaphorischen Bedeutung (es geht hier nicht mehr um die Gestaltung und Beschaffenheit dreidimensionaler Gegenstände). Der Klang der Stimme ist in der Popkultur mindestens genauso wichtig wie die Aussage. Beim Text gilt die Aufmerksamkeit der manifesten Botschaft, nicht möglichen Sinndimensionen, die eine biografisch, mythologisch oder weltanschaulich inspirierte Interpretation mit einigem zusätzlichen Zeitaufwand zutage bringen müsste. Das Fotoporträt gilt wegen der Attraktivität des Abgebildeten als gelungen, nicht wegen der Vermutung, der Fotograf habe die Persönlichkeit oder Seele des Porträtierten erschlossen. In ungewöhnlich hohem Maße werden im Popbereich Phänomene geschätzt, die kaum oder gar nicht zu einer entfalteten, motivierten und abgeschlossenen Erzählung beitragen: Glamour, zielloser Flirt, Sounds, Repetitionen.

Der fünfte Punkt, Künstlichkeit, sieht Pop mit den großen technologischen Umwälzungen verbunden. Die Abkehr vom Natürlichen ist im Bereich der Popkultur sehr weitgehend vollzogen: Mikrofon, Schneideraum, Tonstudio, Spraydosen, Schminke, Botox, Dildos, Augmented-Reality-Filter, Synthesizer- und Sampler-Software, digitale Geräte und Displays zählen zu den wichtigsten Instrumenten und Materialien des Pop. Von den Popkünstlern oder -anhängern wird das intuitiv oder bewusst berücksichtigt: Sie verhalten sich zurückhaltend, skeptisch, ironisch, indifferent oder offen ablehnend gegenüber der Verpflichtung aufs Tiefe, Echte, Ursprüngliche. Selbst wenn sie das Authentische, Erdverbundene, Traditionelle etc. mit Worten feiern, verzichten sie nicht einmal ansatzweise auf die diversen Technologien von Social Media bis hin zum ›natürlichen Make-up‹.

Mit dem sechsten und letzten Punkt, Stilverbund, soll angezeigt werden, dass ein Stil im Popbereich sich sowohl über eine einzelne Kunstgattung als auch über den Bereich der Kunst insgesamt hinaus erstreckt. Ein festgestellter Stil betrifft dann z.B. nicht nur Musik und Tanz, sondern auch das Design von Gütern des täglichen Bedarfs, die Frisurenmode, einen speziellen Jargon usw. Er ist zudem nicht beschränkt auf die Konzeption eines Designers, auch nicht auf die begrenzte Zeit und den abgetrennten Ort einer Festveranstaltung, sondern viel stärker mit dem Alltag und einer Mehrzahl an Akteuren verknüpft.

Nutzt man nun diese Punkte, um die heutige Popkultur einzuschätzen, lässt sich ein Bedeutungsverlust nur konstatieren, wenn man sich auf popkulturelle Zusammenhänge konzentriert, die sich rund um Popmusikstile erstrecken. Etwas Ähnliches wie z.B. Punk ist momentan nicht zu erkennen. Dafür gibt es aber viele andere popkulturelle Zusammenhänge, etwa im Ausgang von Social-Media-Trends, von Sport- und Modemarken, aber auch im Ausgang von Musikstilen, die lediglich weniger öffentliche Aufmerksamkeit gezollt bekommen, als es etwa zur Hochzeit von Punk der Fall war.

Pop und Politik. Das führt zum letzten Punkt, der heutigen politischen Bedeutung der Popkultur. Da solch spektakuläre ‚moral panics‘ wie etwa zu Zeiten von Punk und später Rave ausbleiben, könnte man geneigt sein, diese Bedeutung aktuell wesentlich geringer zu veranschlagen. Auch aus einer Perspektive, die sich von Pop wichtige Impulse für eine Überwindung der an Leistungskontrolle und Arbeitsproduktivität ausgerichteten Gesellschaft versprach, scheint es kaum mehr möglich, der Popkultur eine auch nur annähernd subversive, gar revolutionäre Potenz zuzumessen. Genau aus solchen Beobachtungen lässt sich aber leicht ableiten, welch politische Kraft Teilen der Popkultur innerhalb der liberalkapitalistischen Gesellschaft zukommt.

Nicht nur trägt sie zum Bestand und zur Attraktivität dieser Gesellschaftsform bei, sie sorgt in ihr auch auf eigene Weise für wichtige Änderungen. Hier ist vor allem die in den letzten beiden Jahrzehnten stark zunehmende Durchsetzung anti-maskuliner und queerer Haltungen zu nennen. Damit soll nicht von vornherein bestritten werden, dass parteipolitische Initiativen und gut organisierte soziale Bewegungen vielleicht eine wichtigere Rolle gespielt haben. Selbst wenn dies so sein sollte, wäre aber die politische – liberale – Bedeutung der Popkultur nicht zu vernachlässigen. Darum steht zu vermuten, dass Staaten wie Russland und China, die sich vom sozialistischen Wirtschaftssystem abgewendet haben, in Zukunft trotz der grundsätzlichen (nicht zuletzt ökonomischen) Förderung des Popkonsums in ihren Ländern noch stärker versuchen werden, den künstlich-queeren Anteil der Popkultur zu diskreditieren.